Abbrechende Gletscher und der Meeresspiegel

Jan Oliver Löfken

Eislandschaft mit Bergpanorama im Hintergrund

Luke Copland

Weltweit schmelzen die Eisschilde der Erde jedes Jahr um rund 750 Milliarden Tonnen ab. Diese enorme Wassermenge ist der wesentliche Grund für den Anstieg des Meeresspiegels um gut 20 Zentimeter seit dem Jahr 1900. Zusätzlich schrumpfen Gletscher durch Abbrüche an ihrer Vorderseite – dieser Eisverlust entspricht etwa einem Zehntel des abgeschmolzenen Eises. Die Entwicklung solcher Abbrüche untersuchten nun Forscher an knapp 1500 Gletschern auf der Nordhalbkugel genauer. Wie sie in der Fachzeitschrift „Nature Communications“ berichten, gelangten in den vergangenen Jahren durch Gletscherabbrüche immer größere Mengen an Eis ins Meer – im vergangenen Jahrzehnt sogar gut 52 Milliarden Tonnen pro Jahr.

Im Fokus der Forscher um William Kochtitzky von der University of Ottawa in Kanada standen Gletscher mit direktem Meereszugang. Bei jedem Abbruch kalbt ein solcher Gletscher einen mehr oder weniger großen Eisberg, der dann frei im Meer schwimmt. Lag dieses Eis zuvor an Land, lässt es, wenn es als Eisberg ins Meer abbricht, alleine durch dessen Verdrängung im Wasser den Meeresspiegel ansteigen – selbst dann, wenn das Eis nicht direkt abschmilzt. Anhand von Positionsdaten der Gletscherzungen und zahlreichen Satellitenaufnahmen schätzten die Wissenschaftler nun ab, welche gefrorenen Anteile von insgesamt 1496 Gletschern auf der Nordhalbkugel über die vergangenen beiden Jahrzehnte ins Meer gelangt war.

So ermittelten Kochtitzky und seine Kollegen, dass zwischen den Jahren 2000 und 2010 knapp 45 Milliarden Tonnen Eis von Gletschern ins Meer abgebrochen war. Im zweiten Jahrzehnt stieg dieser Wert noch weiter an – auf etwa 52 Milliarden Tonnen. Allerdings erkannten sie regional große Unterschiede. So schrumpften die Gletscher in Alaska, entlang der russischen Arktisküste und auf Spitzbergen besonders stark durch Abbrüche. Auf Island und entlang der Küsten von Grönland und Kanada traten dagegen weniger Abbrüche auf. Die genaue Ursache dafür könnten kommende Analysen liefern.

Nach Berechnungen der Forscher ließen allein die Gletscherabbrüche auf der Nordhalbkugel den Meeresspiegel in den ersten 20 Jahren dieses Jahrhunderts um 2,1 Millimeter ansteigen. Im Vergleich zum Anstieg, den Schmelzwasser verursacht, ist dieser Wert zwar gering. Um künftig genauer zu prognostizieren, wie sich der Meeresspiegel entwickeln wird, ist der Beitrag abbrechender Gletscher dennoch zu beachten. Genau dazu liefert die aktuelle Studie einen grundlegenden Beitrag und soll darüber hinaus helfen, den weltweiten Rückgang der Gletscher besser zu verstehen – insbesondere wenn noch ähnliche Detailuntersuchungen für die Gletscher auf der Südhalbkugel erfolgen.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/erde/nachrichten/2022/klimawandel-abbrechende-gletscher-und-der-meeresspiegel/