„Das Eis ist dünner und mobiler geworden“

Sebastian Hollstein

Das Bild zeigt das Forschungsschiff umgeben vom arktischen Eis.

Alfred-Wegener-Institut / Marcel Nicolaus. Lizenz: CC BY 4.0

Von September 2019 bis Oktober 2020 driftete das Forschungsschiff „Polarstern“ im Rahmen der MOSAiC-Expedition festgefroren an eine Eisscholle durch das Nordpolarmeer – für Wissenschaftler eine bisher einmalige Gelegenheit, die Klimaprozesse in der Arktis über ein ganzes Jahr zu verfolgen. Neben Untersuchungen der Atmosphäre und des Ozeans, widmeten sich die Forscher vor allem dem Meereis. Im Interview mit Welt der Physik berichtet Marcel Nicolaus vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven, wie sich die Scholle – auf der das Schiff eingefroren war – im Lauf der Jahreszeiten veränderte und was das über den Klimawandel verrät.

Welt der Physik: Warum war es wichtig, das arktische Eis ein Jahr lang zu beobachten?

Mann in Schutzanzug steht in einem Schmelztümpel in einer Eislandschaft; im Hintergrund das Schiff Polarstern.

Marcel Nicolaus

Marcel Nicolaus: Zum einen konnten wir Eisschollen bisher nur ausschnitthaft untersuchen und dadurch beispielsweise ihre Entstehungsgeschichte sowie ihren weiteren Verlauf nicht berücksichtigen. Zum anderen gibt es überhaupt keine direkten Winterbeobachtungen vom Meereis in der Arktis, weil man zu dieser Zeit eigentlich nicht dorthin gelangt. Deshalb haben wir uns im Herbst mit dem Schiff der MOSAiC-Expedition im Eis einfrieren lassen. So konnten wir mit dem Eis durch ein ganzes Jahr reisen.

Was geschah mit Ihrer Scholle im Verlauf der Jahreszeiten?

Sie ist über das Jahr sehr starken Veränderungen ausgesetzt: Zunächst wächst das Eis und erreicht im Winter eine Dicke von ungefähr zwei Metern. Währenddessen bricht die Scholle durch die Strömung und den Wind auf. An den Bruchstellen bildet sich zunächst neues Eis, das sich dann wieder zusammenschiebt – sogenannte Presseisrücken entstehen und das Eis wird immer deformierter. Außerdem fällt Schnee auf die Scholle, der nicht eine glatte Schicht bildet, sondern sich unregelmäßig verteilt. Im Frühjahr schmilzt dann zuerst der Schnee von oben. Es bilden sich die Schmelztümpel, die auf Bildern so charakteristisch blau erscheinen. Wenn sich der Ozean im Sommer erwärmt hat, beginnt das Eis schließlich, von unten zu schmelzen, bis es wieder komplett verschwunden ist.

Mit welchen Methoden haben Sie die Scholle untersucht?

Wir haben die Eisdicke vor allem mit elektromagnetischen Verfahren vermessen. Außerdem beobachteten wir die Energiebilanz sehr intensiv – dafür haben wir sehr viele Messgeräte, sogenannte Thermistorketten, im Eis eingefroren, um zu sehen, wie sich die Thermodynamik des Eises verändert. Und ich persönlich beschäftige mich sehr viel mit den Wechselwirkungen zwischen Sonnenlicht und Meereis. Gemeinsam mit meinen Kollegen habe ich untersucht, wie viel Licht das Eis reflektiert und wie viel durch es hindurch in den Ozean gelangt. Dafür haben wir mit einem Tauchroboter die Scholle von unten kartiert und die Wassereigenschaften unter dem Eis erfasst. Außerdem wurden Eiskernbohrungen durchgeführt, Schneeproben genommen, Seismikstationen auf dem Eis installiert und vieles mehr.

Einsatz eines Tauchroboters

Was haben Sie so über die Bewegungen des Eis erfahren?

Im Winter driftet das Eis in einer großen Packeismasse, während es im Sommer eher losgelöst voneinander in einzelnen Schollen eine freie Driftbewegung vollzieht. Die Drift ist unregelmäßig und hängt sehr vom Wetter ab. Häufig driftet man mit einer Geschwindigkeit von einem halben Knoten, also etwa einem Kilometer pro Stunde. Manchmal hängt die Schollenbewegung sehr von den Gezeiten ab, sie bewegt sich also ein Stück vor und dann wieder ein Stück zurück. Dadurch gab es Tage, an denen wir 50 Kilometer zurückgelegt haben, aber auch Tage, an denen wir fünf Kilometer gegen den Strom zurück gedriftet sind. Insgesamt war die Drift aber deutlich schneller, als wir erwartet – und auch erhofft – hatten. Denn das Eis in der Arktis ist aufgrund des Klimawandels dünner und damit mobiler geworden. Wenn wir die aktuellen Eisverhältnisse mit denen vor 20 oder vor 100 Jahren vergleichen, müssen wir feststellen, dass sich die Drift erheblich verändert hat.

Gab es bei Ihrer Mission noch weitere Überraschungen oder wurden vor allem Vermutungen bestätigt?

Es gab durchaus kleinere Überraschungen. Der Einfluss des Schnees auf das Meereis beispielsweise hat enorm an Bedeutung gewonnen und ist bislang in Klimamodellen unterrepräsentiert. Schnee ist in seinen physikalischen Eigenschaften wesentlich extremer als Meereis. Denn die Wärmeleitfähigkeit oder das Rückstreuverhalten von zehn Zentimetern Schnee entspricht den Eigenschaften von einem Meter Meereis. Schnee und Eis in der Arktis haben sich dadurch stark verändert, wodurch kleine Wetterereignisse mitunter größere Auswirkungen haben, als bislang angenommen. Der Effekt von Warmluftereignissen im Frühjahr beispielsweise verschwindet nicht nach zwei, drei Tagen wieder, sondern bleibt erhalten. Denn der Schnee schmilzt leicht und gefriert dann wieder – und das verändert die Eigenschaften des Eises.

Sie haben während der Expedition sehr stark interdisziplinär gearbeitet, beispielsweise mit Ozeanographen und Atmosphärenphysikern – warum war das für die Analyse der Daten wichtig?

Um ein Gesamtbild der Geschehnisse in der Arktis zu erhalten, ist die Analyse von Wechselwirkungen das Entscheidende, denn viele Prozesse finden an den Schnittstellen zwischen Atmosphäre und Eis oder zwischen Eis und Ozean statt. Für diese Analyse nutzen wir die Messungen von vielen verschiedenen Geräten – beispielsweise von Wolkenlasern und -radaren, die Rückschlüsse auf den Zustand der Atmosphäre zu einem bestimmten Zeitpunkt liefern. Außerdem haben wir die Daten von den Wetterstationen auf der Scholle und den Sensoren im Eis. Damit können wir also die Reaktionen des Eises zu einem bestimmten Zeitpunkt auf die vorliegenden Wetterverhältnisse bestimmen. Darüber hinaus erforschen Kollegen biologisch-physikalische Kopplungen, also wie sich etwa der Lebensraum von Mikroorganismen durch das Schmelzen der Scholle verändert. Oder sie verfolgen Stoffflüsse, also beispielsweise wie CO2 oder Methan vom Ozean durch das Eis in die Atmosphäre gelangt. Und nur wenn man all diese Informationen erfasst, lassen sich die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Systemen erkennen, die wiederum wichtig sind, um numerische Modelle zu verbessern.

Wie genau lassen sich mit den neu gewonnenen Erkenntnissen die aktuellen Klimamodelle verbessern?

Wir wollen unser Klimasystem generell besser verstehen und dabei spielt die Arktis eine zentrale Rolle. Eine bessere Vorhersage der Meereisentwicklung sagt uns viel über die klimatischen Veränderungen in unseren Breiten und in anderen Teilen der Erde. Allerdings liegen in den heutigen Klimamodellen die größten Unsicherheiten in den Polarregionen – unter anderem auch, weil hier die schlechteste Datenlage vorhanden ist. Wie sich das Meereis verändert und wann die Arktis im Sommer eisfrei ist, sind also wichtige Fragen, die es zu klären gilt. Deshalb haben wir jetzt erst einmal die gesammelten Informationen unserer Scholle und einiger Schollen in der Umgebung erfasst. Die untersuchten Wechselwirkungen werden wir in den kommenden Jahren in bestehende Modelle integrieren.

Fahren Sie bald wieder in die Arktis?

Ich bin nun schon seit 20 Jahren immer wieder in der Arktis und ich werde auch diesen Sommer wieder dorthin fahren – zunächst auf eine kürzere Expedition, um Bojen mit autonomen Messsystemen auszubringen, die dann im Herbst und Winter Richtung Nordpol treiben. Die nächste größere Expedition mit der „Polarstern“ steht für mich dann nächstes Jahr im Herbst an.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/erde/polarforschung-das-eis-ist-duenner-und-mobiler-geworden/