„Wir wollen die fundamentalen Rätsel der Physik lösen“

Kim Hermann

Heller Lichtpunkt in der Mitte, von dem in alle Richtungen Lichtstrahlen ausgehen

Polar Media/CERN

Auf der Suche nach den fundamentalen Bausteinen unseres Universums lassen Wissenschaftler winzige Teilchen an gigantischen Beschleunigeranlagen aufeinanderprallen. Die Entdeckung eines dieser Bausteine – des sogenannten Higgs-Teilchens – mit dem Large Hadron Collider am Forschungszentrum CERN war ein Durchbruch in der Teilchenphysik. Doch mit dieser Entdeckung aus dem Jahr 2012 sind noch längst nicht alle Rätsel der Physik gelöst. Welche offenen Fragen es noch gibt und wie Wissenschaftler diese in Zukunft untersuchen möchten, berichtet Joachim Mnich vom Forschungszentrum DESY im Interview mit Welt der Physik.

Welt der Physik: Warum lassen Physiker Teilchen miteinander kollidieren?

Joachim Mnich: An Teilchenbeschleunigern wollen wir herausfinden, aus welchen fundamentalen Bausteinen sich unser Universum zusammensetzt. Dazu nutzen wir Teilchen, die wir bereits kennen, wie etwa Elektronen oder Protonen, und beschleunigen sie auf enorm hohe Energien. Stoßen diese Teilchen schließlich mit nahezu Lichtgeschwindigkeit aufeinander, wird diese Energie freigesetzt, wodurch neue, bislang unbekannte Teilchen entstehen können. Diese Teilchen können wir dann mithilfe von Detektoren nachweisen.

Porträt des Wissenschaftlers Joachim Mnich, im Hintergrund mehrere Monitore

Joachim Mnich

Unter welchen Bedingungen können Teilchen aus einer Kollision hervorkommen?

Laut Einsteins berühmter Formel E = mc2 kann sich Energie in Masse umwandeln. Genau das passiert bei einer Teilchenkollision: Durch die Beschleunigung erhalten die ursprünglichen Teilchen eine enorme Menge an Energie, aus der beim Aufprall dann neue Teilchen mit einer bestimmten Masse entstehen können. Je mehr Energie mit den Beschleunigern erzeugt wird, desto schwerere Teilchen können aus der Kollision hervorkommen.

Und welche Teilchen lässt man dafür aufeinanderprallen?

Wir verwenden elektrisch geladene Teilchen, da wir die Teilchen mithilfe von elektrischen Feldern beschleunigen. Es eignen sich zum Beispiel Elektronen und ihre Antiteilchen – die sogenannten Positronen. So haben Forscher im Jahr 1979 hier am Forschungszentrum DESY in Hamburg bei Kollisionen von Elektronen und Positronen zum ersten Mal ein neues Teilchen – das sogenannte Gluon – erzeugt und nachgewiesen. Mittlerweile ist das Gluon ein fester Bestandteil des Standardmodells der Teilchenphysik. Dieses theoretische Modell sagt vorher, welche Teilchen es in unserem Universum gibt und wie diese Teilchen miteinander wechselwirken. So können wir alle uns bekannten Teilchen beschreiben.

Am Large Hadron Collider werden statt Elektronen allerdings Protonen beschleunigt. Wieso?

Ein Nachteil von Elektronen ist, dass sie in kreisförmigen Beschleunigern wie etwa dem Large Hadron Collider, kurz LHC, am Forschungszentrum CERN ständig einen Teil ihrer Energie als sogenannte Synchrotronstrahlung abstrahlen. Dieser Effekt begrenzt die maximale Energie, die wir erreichen können. Doch je schwerer Teilchen sind, desto weniger Synchrotronstrahlung geben sie ab. Bei Protonen, die deutlich schwerer als Elektronen sind, fällt der Effekt nicht ins Gewicht. So werden am LHC deutlich höhere Energien erreicht, die es im Jahr 2012 schließlich ermöglichten, das letzte noch fehlende Puzzlestück des Standardmodells nachzuweisen – das Higgs-Teilchen.

Stahlröhre in einem Tunnel

Beschleunigerröhre des LHC

Wenn mit dem Higgs-Teilchen das letztes Puzzlestück gefunden ist, lassen sich dann überhaupt noch weitere Teilchen entdecken?

Es ist beeindruckend, dass sich tatsächlich alle Teilchen, die das Standardmodell vorhersagt, nun auch experimentell nachweisen ließen. Allerdings gibt es noch zahlreiche Beobachtungen, die sich mit dem Standardmodell nicht erklären lassen. So macht die uns bekannte Materie nur einen Bruchteil der gesamten Materie des Universums aus. Der restliche Teil besteht aus der sogenannten Dunklen Materie. Neben der Dunklen Materie gibt es auch noch weitere, grundlegende Rätsel in der Physik, die bislang ungeklärt sind. Deswegen wissen wir, dass es physikalische Vorgänge jenseits unseres bisherigen Modells geben muss.

Lassen sich diese offenen Fragen in Zukunft auch an Teilchenbeschleunigern untersuchen?

Ja, allerdings brauchen wir dafür neue Strategien: Als ersten Schritt wollen wir das Higgs-Teilchen genauer untersuchen. Denn das Standardmodell sagt exakt vorher, welche Eigenschaften dieses Teilchen haben sollte. Wenn man also eine Abweichung von diesen Werten findet, deutet das auf neue Effekte jenseits des Standardmodells hin. Doch während das Higgs-Teilchen bei der Kollision von Protonen am LHC entdeckt wurde, eignet sich dieser Aufbau nicht mehr, um die Eigenschaften des Teilchens präzise zu untersuchen.

Warum ist das so?

Protonen setzen sich aus verschiedenen Elementarteilchen – den sogenannten Quarks und Gluonen – zusammen, die alle am Aufprall beteiligt sind. Dadurch laufen bei der Kollision mehrere Prozesse gleichzeitig ab und der genaue Ablauf der Kollision lässt sich nur schwer rekonstruieren. Daher muss man für die präzise Vermessung des Higgs-Teilchens auf Elektronenbeschleuniger zurückgreifen. Wir nennen dieses Konzept eine Higgs Factory. Denn anders als Protonen sind Elektronen bereits Elementarteilchen, sie bestehen also nicht aus weiteren Teilchen. An solchen Kollisionen wären also weniger Teilchen beteiligt, wodurch sich die Kollisionsprozesse mit hoher Genauigkeit untersuchen lassen.

Satellitenaufnahme der Umgebung von Genf; ein eingezeichneter elliptischer Kreis zeigt die Lage des Teilchenbeschleunigers Future Circular Collider

Der Future Circular Collider

Aber Elektronen lassen sich doch nur begrenzt auf hohe Energien beschleunigen?

Genau, deswegen suchen Wissenschaftler nach neuen Möglichkeiten, den Energieverlust der Elektronen zu kompensieren. Eine Idee ist es, am Forschungszentrum CERN einen noch größeren Beschleunigerring zu bauen. Während der LHC einen Umfang von knapp 27 Kilometern misst, könnte der zukünftige sogenannte Future Circular Collider, kurz FCC, ganze 100 Kilometer lang sein. So ließen sich Elektronen trotz der Verluste auf die nötigen Energien beschleunigen. Um die Synchrotronstrahlung komplett zu vermeiden, könnte man Elektronen alternativ auch geradlinig beschleunigen – in sogenannten Linearbeschleunigern. Es gibt also verschiedene Ansätze für eine Higgs Factory und jetzt gilt es zu prüfen, welche Idee die vielversprechendste ist.

Sind neben der Higgs Factory noch weitere Projekte in der Teilchenphysik geplant?

Würde man tatsächlich den Future Circular Collider bauen, wäre die Beschleunigung von Elektronen nur ein erster Schritt. Denn mit Protonen ließe sich die theoretisch erreichbare Energie auf etwa das Siebenfache der bisherigen Energien am LHC steigern. Es gibt unterschiedliche Theorien, die zahlreiche Teilchen in diesem Energiebereich vorhersagen. Mit den Messungen am FCC ließen sich diese Theorien überprüfen – oder auf Basis der neuen Daten sogar neue Theorien aufstellen. Auf diese Weise, so hoffen viele Forscher, könnten wir einige der noch offenen Fragen, wie etwa die nach Dunkler Materie, beantworten.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/wir-wollen-die-fundamentalen-raetsel-der-physik-loesen/