„Doch nur eine zufällige Schwankung“

Kim Hermann

Die Abbildung zeigt den ATLAS-Detektor. Im Zentrum ist eine runde Scheibe abgebildet, von der mehrere Rohre nach vorne führen. Rund um den Detektor herum befinden sich zahlreiche Gerüste. Im Vordergrund steht ein Mensch.

CERN

Die gesamte Materie um uns herum – vom Menschen bis hin zu Sternen oder ganzen Galaxien – setzt sich aus nur wenigen Grundbausteinen zusammen. Die Eigenschaften dieser sogenannten Elementarteilchen untersuchen Forscher an großen Teilchenbeschleunigern wie dem Large Hadron Collider – kurz LHC – am Forschungszentrum CERN. In den 1990er-Jahren etwa beobachteten Physiker am Vorgänger des LHC ein bislang ungeklärtes, überraschendes Verhalten von einigen Teilchen, das nicht zu den theoretischen Vorhersagen passte. Wie Andreas Hoecker vom Forschungszentrum CERN und seine Kollegen dieses Ergebnis nun in einem neuen, deutlich genaueren Experiment überprüft haben, berichtet der Teilchenphysiker im Interview mit Welt der Physik.

Welt der Physik: Sie untersuchen die Eigenschaften der kleinsten Teilchen unseres Universums. Wie funktioniert das?

Andreas Hoecker: Mit dem Large Hadron Collider beschleunigen wir Protonen auf extrem hohe Energien. Prallen die Protonen dann aufeinander, wird ihre enorme Energie schlagartig freigesetzt und es können zahlreiche neue Teilchen entstehen. Diese Teilchen spüren wir mit unseren Detektoren auf und untersuchen sie. Teilchenbeschleuniger wie der LHC haben es uns somit ermöglicht, eine Vielzahl an unterschiedlichen Teilchen – vor allem Elementarteilchen – zu entdecken.

Portraitaufnahme des Forschers Andreas Hoecker

Andreas Hoecker

Welche Eigenschaften haben diese Elementarteilchen?

Forscher haben ein Modell entwickelt, das alle Elementarteilchen und ihre Wechselwirkung untereinander beschreibt: Das sogenannte Standardmodell der Teilchenphysik. So sind etwa Quarks – aus denen Protonen und Neutronen aufgebaut sind – und Elektronen auch Bestandteile des Standardmodells. Mit dem Modell lässt sich somit alle uns bekannte Materie beschreiben. Und mit der Entdeckung des Higgs-Bosons durch die ATLAS- und CMS-Detektoren am LHC im Jahr 2012 wurde schließlich das letzte noch fehlende Teilchen des Standardmodells nachgewiesen.

Also hat man bereits alle Teilchen entdeckt, die es gibt?

Zumindest alle Teilchen, die sich mit dem Standardmodell beschreiben lassen. Es gibt allerdings physikalische Phänomene, die mit den bestehenden Theorien nicht zu erklären sind. Wir wissen zum Beispiel noch nicht, woraus die rätselhafte Dunkle Materie besteht, die unser Universum durchdringt. Kein Teilchen im Standardmodell hat dafür die passenden Eigenschaften. Deswegen versuchen wir zum einen mit unseren Beschleunigern noch höhere Energien zu erreichen, um möglicherweise bislang unbekannte Teilchen zu erzeugen. Zum anderen wollen wir die Eigenschaften der Teilchen, die wir bereits kennen, genauer bestimmen. Wenn diese Eigenschaften nicht mit den theoretischen Vorhersagen des Standardmodells übereinstimmen, wird es spannend.

Was würde das bedeuten?

Eine solche Abweichung wäre ein eindeutiger Hinweis, dass wir ein verbessertes Modell brauchen, um die grundlegenden Bausteine des Universums zu beschreiben. Möglicherweise ließen sich mit einem solchen Modell dann auch andere der bislang ungeklärten Rätsel der Teilchenphysik lösen. Und tatsächlich haben Forscher am Large Electron-Positron Collider – dem Vorgänger des LHC – am CERN in den 1990-er Jahren eine mögliche Abweichung vom Standardmodell gemessen.

Die Abbildung zeigt eine Übersicht über alle Teilchen im Standardmodell der Teilchenphysik.

Standardmodell der Teilchenphysik

Was genau haben die Forscher damals beobachtet?

Neben dem Elektron gibt es im Standardmodell noch zwei weitere Teilchen, die dem Elektron stark ähneln: Das Myon und das Tauon. Die drei Teilchen sind sogenannte Leptonen und unterscheiden sich lediglich in ihrer Masse: Während ein Myon etwa die zweihundertfache Masse eines Elektrons besitzt, ist ein Tauon sogar über dreitausendmal so schwer wie ein Elektron. Gemäß dem Standardmodell verhalten sich die drei Leptonen, abgesehen von ihrer Masse, genau gleich – man spricht von der sogenannten Lepton-Universalität. Doch in ihrem Experiment haben die Forscher einen Unterschied beobachtet.

Worin genau bestand dieser Unterschied?

Die Forscher haben untersucht, wie häufig ein bestimmtes Teilchen aus dem Standardmodell, das wir W-Boson nennen, in entweder ein Elektron, ein Myon oder ein Tauon zerfällt. Diese Zerfälle sind – abgesehen von winzigen Abweichungen, die in den Experimenten vernachlässigbar waren – unabhängig von der Masse der Teilchen und sollten laut dem Standardmodell daher genau gleich oft stattfinden. Doch die Forscher stellten damals eine etwas höhere Zerfallsrate in Tauonen fest. Ob es sich dabei allerdings tatsächlich um einen Hinweis auf neue Physik handelte, oder eher um eine zufällige Schwankung in den Daten, war bislang nicht klar.

Und Sie haben dieses Ergebnis aus den 1990-er Jahren nun nochmal nachgemessen?

Die Abbildung stellt eine Teilchenkollision dar. Von einem zentralen Punkt aus gehen mehrere Linien sowie zwei Kegel nach außen weg.

Teilchenkollision am ATLAS-Detektor

Genau, am LHC haben wir zwischen den Jahren 2015 und 2018 eine sehr große Menge an Teilchenkollisionen aufgezeichnet – so viele Daten hatten wir noch nie. Diese Kollisionen haben wir nun analysiert und so die Messung von damals mit einer höheren Genauigkeit überprüft. Wir konnten keinen Unterschied zwischen den Zerfällen feststellen. Zwar trat der Zerfall in Myonen etwa 0,8 Prozent häufiger auf, doch das liegt innerhalb der Messungenauigkeiten des Experiments. Somit haben wir die Vermutung widerlegt, es könne eine Verletzung der Lepton-Universalität in der damals gemessenen Größenordnung geben. Höchstwahrscheinlich ist das Ergebnis der damaligen Messung einfach auf eine zufällige, statistische Schwankung in den gemessenen Daten zurückzuführen.

Was bedeutet dieses Ergebnis für die zukünftige Forschung in der Teilchenphysik?

Hätten wir das Ergebnis des Experiments am Large Electron-Positron Collider tatsächlich bestätigt, wäre das eine Sensation gewesen. Denn obwohl wir wissen, dass es physikalische Phänomene geben muss, die mit dem Standardmodell der Teilchenphysik nicht vereinbar sind, gestaltet sich die Suche nach Abweichungen vom Standardmodell extrem schwierig. Daher gehen wir jeder Auffälligkeit in unseren Messungen nach. Wir wissen nie, wo plötzlich Unstimmigkeiten auftauchen könnten. Auch das aktuelle Experiment werden wir in Zukunft nochmals mit einer höheren Genauigkeit nachmessen: Bis zum Jahr 2027 sollen der LHC sowie die ATLAS- und CMS-Detektoren so umgebaut werden, dass wir etwa die Zehnfache Menge an Daten aufzeichnen können, die uns bis dahin zur Verfügung stehen wird. Möglicherweise lässt sich dann eine Abweichung vom Standardmodell der Teilchenphysik entdecken.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/bausteine/doch-nur-eine-zufaellige-schwankung/