„Das Standardmodell auf Herz und Nieren prüfen“

Dirk Eidemüller

Gerüste im Inneren einer Halle, auf einem steht eine Wissenschaftlerin im Schutzanzug

Maximilien Brice/CERN

Fast alle physikalischen Prozesse im Universum gehorchen fundamentalen Symmetrien. Würde man in einem Experiment beispielsweise die Materie gegen Antimaterie austauschen und das gesamte System räumlich spiegeln, sollte das keinen Einfluss auf das Ergebnis haben. Einige Elementarteilchen halten sich jedoch nicht an diese sogenannte CP-Symmetrie. Nun haben Physiker eine weitere Ausnahme entdeckt: Erstmals haben sie die Verletzung der CP-Symmetrie auch für positiv geladene Quarks nachgewiesen. Welt der Physik sprach darüber mit Michael Schmelling vom Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg.

Welt der Physik: Welche Rolle spielen Symmetrien in der Physik?

Porträt des Wissenschaftlers Michael Schmelling

Michael Schmelling

Michael Schmelling: Für unser Verständnis der Natur sind Symmetrien fundamental. Ob man etwa einen Stein nach links oder nach rechts wirft, spielt physikalisch gesehen keine Rolle. Die Flugbahn sieht im Spiegelbild gleich aus. Diese Spiegelsymmetrie ist bereits eine der grundlegenden Symmetrien der Physik und spielt vor allem in der Teilchenphysik eine wichtige Rolle. Sie besagt, dass physikalische Gesetze keinen Unterschied zwischen einem Ereignis und seinem Spiegelbild machen.

Gibt es weitere wichtige Symmetrien in der Teilchenphysik?

Neben dieser Spiegel- oder Paritätssymmetrie gibt es noch zwei weitere globale Symmetrien: die Zeitumkehr, bei der ein Prozess in zeitlich umgedrehter Folge abläuft. Und es gibt die sogenannte Ladungskonjugation, bei der jedes Teilchen gegen sein Antiteilchen ausgetauscht wird. Aus einem negativ geladenen Elektron wird dabei ein positiv geladenes Positron, aus einem Proton ein Antiproton und so weiter.

Treten diese Symmetrien überall in der Natur auf?

Laut dem sogenannten Standardmodell der Materie – das bislang extrem präzise bestätigt ist – gibt es unter den vier bekannten fundamentalen physikalischen Kräften genau eine, die alle drei Symmetrien bricht: die schwache Kernkraft. Sowohl die starke Kernkraft – die Atomkerne zusammenhält – als auch die elektromagnetische Kraft verhalten sich bezüglich Spiegelung, Zeitumkehr und Ladungskonjugation perfekt symmetrisch. Auch die Gravitation scheint sich so zu verhalten, wobei die Messungen hierzu vergleichsweise ungenau sind. Denn die Gravitation ist sehr viel schwächer als die anderen Naturkräfte.

Wie kann man sich diese Symmetriebrechung vorstellen?

Ein gutes Beispiel hierfür sind Neutrinos, die nur über die schwache Kraft und nicht über die starke oder die elektromagnetische Kraft wechselwirken. Diese Teilchen verhalten sich so, als würden sie sich um die Richtung drehen, in die sie fliegen. Bisher ließen sich ausschließlich Neutrinos beobachten, die gegen den Uhrzeigersinn rotieren, während sich Antineutrinos offenbar immer mit dem Uhrzeigersinn drehen. Im Spiegelbild oder bei einem Austausch von Teilchen und Antiteilchen wären die entsprechenden Symmetrien also maximal verletzt. Wendet man allerdings beide Symmetrietransformationen gleichzeitig an, wird aus einem linksdrehenden Neutrino ein rechtsdrehendes Antineutrino. In der Teilchenphysik spricht man in diesem Fall von der sogenannten CP-Symmetrie: C steht für „Charge Conjugation“ oder Ladungskonjugation, P für „Parity“ oder Spiegelung.

Die Grafik zeigt den Aufbau des LHCb-Detektors, die verschiedenen Module sind durch unterschiedliche Farbgebung gekennzeichnet

Modell des LHCb-Detektors

Hat es irgendwelche Folgen, dass sich die schwache Wechselwirkung anders verhält als die anderen Grundkräfte?

Nach dem Urknall haben Materie und Antimaterie in gleicher Menge vorgelegen. Irgendein unbekannter Prozess muss dann ein Ungleichgewicht zwischen beiden Materiearten erzeugt haben. Kurz nach dem Urknall zerstrahlte nämlich alle Antimaterie mit Materie. Dabei blieb ein bisschen Materie übrig, aus der wir heute bestehen. Das Interessante ist nun: Es gibt seltene Prozesse der schwachen Wechselwirkung, die die CP-Symmetrie verletzten und so für einen Überschuss an Materie gegenüber Antimaterie sorgen könnten. Nach heutigem Verständnis reichen diese Prozesse alleine zwar nicht aus, um die Häufigkeit von Materie gegenüber Antimaterie im Weltall gänzlich zu erklären. Aber sie sind unser bester Ansatz zur Lösung dieses Rätsels.

Die LHCb-Kollaboration hat nun auch bei Charm-Quarks eine CP-Verletzung nachgewiesen. Ist das überraschend?

Von sogenannten Strange- und Beauty-Quarks ist schon seit Jahren bekannt, dass sie derartige symmetriebrechende Prozesse durchmachen. Dank der Messungen am CERN, zu denen wir Datenmaterial aus mehreren Jahren Laufzeit zusammengetragen haben, wissen wir nun, dass dieser Effekt auch bei positiv geladenen Quarks auftreten kann. Das gibt uns eine neue Möglichkeit, das Standardmodell der Teilchenphysik auf Herz und Nieren zu prüfen und nach möglichen Effekten neuer physikalischer Gesetzmäßigkeiten Ausschau zu halten.

Wie gut stimmen die Ergebnisse denn mit dem Standardmodell überein?

Unsere Messungen scheinen mit den theoretischen Vorhersagen verträglich zu sein. Jedoch liegt der gemessene Wert am oberen Rand dessen, was die Theoretiker ausgerechnet haben. Dazu muss man allerdings hinzufügen, dass diese Berechnungen außerordentlich kompliziert und derzeit noch nicht sehr präzise sind. Unsere Messung dürfte aber eine gute Motivation für die Theoretiker sein, ihre Vorhersagen weiter zu präzisieren. Wir werden diese Art von Analysen jedenfalls weiterführen, wenn der LHC nach dem jetzigen langen Shutdown wieder in Betrieb geht.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/bausteine/das-standardmodell-auf-herz-und-nieren-pruefen/