„Am spannendsten ist das, womit man nicht rechnet“

Dirk Eidemüller

Zwei Arbeiter stehen auf einer Plattform vor einer sehr großen kreisrunden Maschine

Steven Goldfarb/CERN

Nach mehrjähriger Wartungs- und Umbaupause geht der weltweit größte und leistungsfähigste Teilchenbeschleuniger, der Large Hadron Collider am Forschungszentrum CERN – kurz LHC –, Ende März wieder in Betrieb. Mehrere Jahre lang soll er in dieser Run 3 genannten Betriebsphase neue Daten sammeln. Im Interview mit Welt der Physik erzählt Andreas Hoecker vom Forschungszentrum CERN, welche Teile des Beschleunigers und der Detektoren während der Betriebspause erneuert wurden und was sich die Forscher von dem dritten Run erhoffen.

Welt der Physik: Was ist während der etwa dreijährigen Betriebspause am LHC passiert?

Porträt von Andreas Hoecker

Andreas Hoecker

Andreas Hoecker: Es wurde an allen Ecken und Enden gearbeitet. Sowohl am Beschleuniger selbst als auch an den Detektoren wurden viele Komponenten ausgetauscht und durch bessere Systeme ersetzt. Eine besonders wichtige Neuerung ist der Linearbeschleuniger Linac 4 – die erste Beschleunigungsstufe der Protonen.

Welche Funktion hat dieser Linearbeschleuniger?

Im LHC werden Protonen in bis zu 2800 Paketen zur Kollision gebracht. Um die besten Ergebnisse zu erzielen, sollten sich möglichst viele Protonen mit genau definierter Energie in jedem Paket befinden. Deswegen werden die Protonen, bevor sie den LHC erreichen, durch eine Kette von Vorbeschleunigern von null auf 450 Gigaelektronenvolt beschleunigt und in Pakete gepackt. Der Linac 4 ist die erste Beschleunigungsstufe in der Kette. Er liefert eine mehr als dreimal höhere Endenergie der Protonen als sein Vorgänger, der Linac 2, bevor diese dann in den nächsten Beschleuniger geleitet werden. Durch einen Trick – es werden negativ geladene Wasserstoffionen an Stelle der Protonen beschleunigt – kann er außerdem mehr Protonen beschleunigen. Das ist eine wichtige Voraussetzung für die Weiterentwicklung des LHC zum „High-Luminosity LHC“, für den dann in einigen Jahren die Kollisionsraten nochmals deutlich erhöht werden sollen.

Welche Energie erreicht der Teilchenstrahl nun insgesamt?

Wir erwarten beim Run 3 durchgehend eine Kollisionsenergie von 13,6 Teraelektronenvolt – oder kurz TeV. Das ist etwas mehr als die Kollisionsenergie von 13 TeV, die während des Run 2 von 2015 bis 2018 erreicht wurde. Die höhere Energie erhöht die Rate, mit der schwere Teilchen – wie beispielsweise das Higgs-Boson – entstehen. Außerdem wird die Suche nach neuen Teilchen in einem zusätzlichen Massenbereich ermöglicht, der bislang nicht zugänglich war. Die neue Energie ist allerdings etwas niedriger als die ursprünglich geplanten 14 TeV, die dann hoffentlich bei Run 4 erreicht werden. Dafür müssten alle Magnete im LHC eigentlich ihre volle Leistung bringen. Wir hätten allerdings monatelange Verzögerungen riskiert, wenn sich nun beim Hochfahren auf die maximale Magnetfeldstärke auch nur bei einem einzigen der 1232 Magnete Probleme entwickelt hätten. Auch angesichts der Schwierigkeiten und Verzögerungen aufgrund der Coronapandemie wurde entschieden, dieses Risiko nicht einzugehen. Die ersten Kollisionen mit der erwarteten Energie von 13,6 TeV sollten Anfang bis Mitte Juni dieses Jahres stattfinden.

Auf einem Podest in einer Halle verläuft eine silberne, verkabelte Röhre

Linac 4

Wie gut sind die Umbaumaßnahmen insgesamt vorangekommen?

Alle beteiligten Kollaborationen mussten in den letzten Jahren trotz der coronabedingten Einschränkungen mit vollem Einsatz arbeiten, um die geplanten Umbaumaßnahmen durchführen zu können. Damit haben wir den LHC mitsamt allen Detektoren nochmals deutlich leistungsfähiger gemacht. Alle Kollaborationen sehen dem Run 3 mit hohen Erwartungen entgegen. In den kommenden vier Jahren werden wir rund doppelt so viele Daten sammeln wie bei der vorherigen Betriebsphase.

Welche Veränderungen gibt es bei den großen Detektoren?

Am LHC selbst gibt es vier große Experimente: ATLAS und CMS sind die beiden großen Universaldetektoren, während ALICE und LHCb auf bestimmte Prozesse spezialisiert sind. Bei allen Experimenten gab es erhebliche Veränderungen, die deren Leistungsfähigkeit verbessert haben. Beim CMS-Detektor wurde unter anderem der innerste Teil des Spurdetektors erneuert. Bei ALICE wurden etwa die inneren Spurkammern ersetzt. Zudem wurde ein neues Auslesesystem entwickelt, mit dem rund fünfzigmal mehr Daten erfasst werden können, als bislang möglich war. Beim LHCb-Experiment wurde sogar fast der komplette Detektor erneuert, so dass dort ebenfalls ein mehrfacher Anstieg der Datenrate zu verzeichnen sein wird.

Und am ATLAS-Detektor?

Wir haben im Wesentlichen zwei Komponenten ersetzt, die für eine bessere Online-Selektion wichtig sind. Mit dieser Online-Selektion lassen sich in zwei Stufen die im Detektor gemessenen Kollisionsprozesse, die sogenannten Ereignisse, von 30 Millionen pro Sekunde auf ungefähr 1500 pro Sekunde reduzieren. Es werden dann nur diese interessantesten 1500 Ereignisse pro Sekunde für die spätere Analyse gespeichert. Zur Auswahl dieser physikalisch besonders aufschlussreichen Ereignisse dienen einerseits die neuen kleinen Myon-Räder, mit denen die besonders durchdringenden Myonen mit besserer Genauigkeit nachgewiesen werden können. Außerdem haben wir die Elektronik für die Online-Selektion des sogenannten Kalorimeters deutlich verbessert, sodass wir Elementarteilen, wie Elektronen, Photonen, Tau-Leptonen sowie bestimmte Teilchenjets genauer identifizieren können. Das alles ermöglicht es uns, die interessantesten Ereignisse mit größerer Effizienz online zu selektieren und dadurch nur die physikalisch relevantesten Daten zu speichern.

Gibt es auch neue Experimente am LHC?

Ungefähr 480 Meter vor und hinter dem ATLAS-Detektor entlang des LHC-Strahlrohrs gibt es zwei kleine neue Detektoren, die nach seltenen, hypothetischen Teilchen suchen und Neutrinos untersuchen können. Sie heißen FASER, das steht für Forward Search Experiment, und SND, kurz für Scattering and Neutrino Detector. Die großen Detektoren wie ATLAS untersuchen alle Prozesse, die rund um die Kollision stattfinden, sind allerdings weitgehend blind für Ereignisse, deren Produkte entlang des Strahlrohrs fliegen. Solche könnten bislang unbekannte, leichte und nur schwach wechselwirkende Teilchen enthalten, wie sie von einigen Theorien zur Dunklen Materie vorhergesagt werden. Der Zerfall solcher Teilchen könnte in FASER und SND entdeckt werden. Mit den beiden Experimenten sollen auch Reaktionen von Neutrinos gemessen werden, die bei den Kollisionen in ATLAS in großen Mengen produziert werden.

Zwei große Röhren, die in einen Tunnel hineinreichen

FASER

Mit welchen Ergebnissen rechnen Sie bei Run 3?

Wir werden unter anderem das Higgs-Teilchen noch genauer unter die Lupe nehmen. Um den grundlegenden Prozess der Massenerzeugung durch den Higgs-Mechanismus zu testen, wollen wir nach sogenannten Di-Higgs-Prozessen Ausschau halten. Das sind Ereignisse, bei denen gleich zwei Higgs-Teilchen auf einmal produziert werden. Schon die Produktion einzelner Higgs-Teilchen ist aber sehr selten. Higgs-Doppelerzeugungen sind noch einmal rund tausendmal seltener. Wir gehen zwar derzeit davon aus, dass wir den High-Luminosity-LHC brauchen, um Di-Higgs-Ereignisse statistisch signifikant nachzuweisen. Doch vielleicht können wir erste Anzeichen schon im Run 3 sehen. Denn am spannendsten ist natürlich immer das, womit man nicht rechnet.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/experimente/teilchenbeschleuniger/cern-lhc/run-3/