„Wie die Nadel im Heuhaufen“

Jana Harlos

Das Bild zeigt den CMS-Detektor.

Maximilien Brice/CERN

Im Juni 2012 entdeckten Physiker in den Messdaten des Large Hadron Colliders am Forschungszentrum CERN ein neues Teilchen. Wie sich herausstellte, handelte es sich dabei tatsächlich um das lange gesuchte Higgs-Teilchen – ein Meilenstein. In den vergangenen sechs Jahren haben die Wissenschaftler die Eigenschaften dieses Elementarteilchens genau vermessen und sich vor allem angesehen, wie es innerhalb eines winzigen Sekundenbruchteils wieder zerfällt. In nahezu sechzig Prozent der Fälle sollten dabei zwei sogenannte Bottom-Quarks entstehen, so sagt es die Theorie. Zwar haben Physiker in den Daten der beiden Experimente ATLAS und CMS bereits starke Hinweise auf diesen Zerfall gefunden. Nun gelang den Gruppen aber unabhängig voneinander der eindeutige Nachweis. Warum es so lange dauerte, diesen Zerfall dingfest zu machen, und wie es am LHC in den kommenden Jahren weitergehen wird, erklärt Christian Zeitnitz von der Universität Wuppertal im Interview.

Welt der Physik: Welche Eigenschaften des Higgs-Teilchens haben Sie in den vergangenen Jahren untersucht?

Christian Zeitnitz: Wir haben mittlerweile die Masse des Higgs-Teilchens mit hoher Präzision bestimmt. Doch um sicher zu sein, dass sich das Teilchen so verhält wie 1964 von Peter Higgs und anderen Theoretikern vorhergesagt, muss man auch andere Eigenschaften des Teilchens untersuchen – beispielsweise seinen Spin, also seinen Eigendrehimpuls. Alle bisherigen Messungen bestätigen die entsprechende theoretische Vorhersage. Vor allem schauen wir uns aber die verschiedenen Erzeugungs- und Zerfallsmöglichkeiten des Higgs-Teilchens an. Wir können genau berechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit bestimmte Teilchen beim Zerfall entstehen. Und dann kann man mit Experimenten überprüfen, ob es sich tatsächlich so verhält. Manche Zerfallswege lassen sich recht einfach vermessen, bei anderen ist es schwieriger.

Die Grafik zeigt ein zylindrisches Objekt. Vom Mittelpunkt des Zylinders laufen verschiedenfarbige gekrümmten Spuren in alle Richtungen.

Higgs-Zerfall in Bottom-Quarks

Wovon hängt das ab?

Das hängt zum einen von der Masse der erzeugten Teilchen ab und zum anderen davon, wie leicht man sie im Detektor nachweisen kann. Wenn es beispielsweise noch viele andere Prozesse gibt, in denen das Teilchen ebenfalls entsteht, dann wird es schwieriger. Das ist auch beim sogenannten Bottom-Quark der Fall: Es gibt unglaublich viele Möglichkeiten, dieses Elementarteilchen zu erzeugen. Man muss also erst einmal diese Nadel im Heuhaufen finden – sich also sicher sein, dass es aus einem Higgs-Zerfall hervorging. Um verlässliche Aussagen machen zu können, sind sehr viele Daten und eine aufwendige Analyse nötig. Das dauert seine Zeit. Für das Bottom-Quark eben sechs Jahre: Erst jetzt gelang der sichere Nachweis mit den beiden Experimenten ATLAS und CMS am LHC. Außerdem haben wir bereits im April dieses Jahres die Erzeugung des Higgs zusammen mit Top-Quarks bestätigt, was sich ebenfalls sehr schwer nachweisen lässt.

Warum messen Sie die Zerfälle gleichzeitig mit dem ATLAS- und dem CMS-Detektor?

Wir kombinieren die Daten der beiden Experimente, um ein signifikanteres Ergebnis zu erhalten. Denn auch wenn der ATLAS- und der CMS-Detektor etwas anders funktionieren, sollten beide zum gleichen Ergebnis kommen. Ein signifikanter Unterschied würde entweder auf ein Problem bei einer der Messungen hinweisen oder auf etwas, was man noch nicht verstanden hat. Sind die Ergebnisse konsistent, kann man sich dagegen ziemlich sicher sein, dass beide Messungen korrekt sind. Und so bestätigen die neuen Ergebnisse abermals die Theorie – bisher verhält sich das Higgs-Teilchen also wie erwartet.

Erwarten Sie in Zukunft den Nachweis von weiteren Higgs-Zerfällen?

Alles, was wir sehen – Menschen, Tiere, Pflanzen, Erde und Planeten – besteht aus Materieteilchen. Insgesamt gibt es zwölf Materieteilchen, die in sechs Quarks und sechs Leptonen unterteilt werden. Beide Gruppen bestehen aus Teilchen dreier Familien.

Elementarteilchen und Grundkräfte

Ja, denn das Higgs-Teilchen kann theoretisch auch in die leichteren der sechs verschiedenen Quarktypen zerfallen. Aber dieser Nachweis wird nochmals schwieriger, weil es für diese Elementarteilchen sehr viele konkurrierende Prozesse gibt, die im Detektor die gleiche Signatur erzeugen – also genau gleich aussehen. Hier spielen dann moderne Analysetechniken und Detektionsmethoden eine große Rolle. Außerdem braucht man noch sehr viel mehr Daten, um überhaupt eine Chance zu haben. Das gilt auch für Zerfälle in Elektronen oder Myonen, die nur extrem selten auftreten. Ein Higgs sollte aber auch mit anderen Higgs-Teilchen in Wechselwirkung treten. Bis wir das messen können, werden aber vermutlich noch zehn oder mehr Jahre vergehen.

Ab Dezember dieses Jahres wird der LHC erst einmal eine zweijährige Pause einlegen. Was passiert in dieser Zeit?

Sowohl die Detektoren als auch der Beschleuniger werden in dieser Zeit überholt und umgebaut: Einige Komponenten werden verbessert, andere ersetzt. Außerdem bereiten wir Beschleuniger und Detektoren auf den großen Umbau – das High Luminosity Upgrade – in den Jahren 2024 bis 2026 vor. Erste Aktualisierungen dafür finden schon in der kommenden Betriebspause statt und die ersten neuen Komponenten – etwa eine optimierte Elektronik – werden bereits in Betrieb genommen. Trotz der langen Pause werden wir aber genügend zu tun haben. Allein in diesem Jahr erzeugt der LHC noch viele Daten, die wir erst einmal analysieren und verstehen müssen. Für die Analyse gibt es auch immer wieder neue Methoden, beispielsweise setzen wir inzwischen maschinelles Lernen ein.

Was erhoffen Sie sich von dem Ausbau der Detektoren und des Teilchenbeschleunigers?

Unter anderem möchten wir in Zukunft die Eigenschaften des Higgs-Teilchens mit noch höherer Präzision untersuchen, um mögliche Abweichungen von der Theorie erkennen zu können. Denn wir wissen, dass das Standardmodell der Teilchenphysik nicht alle Fragen löst: Wir können beispielsweise die Dunkle Materie im Kosmos nicht erklären und auch für die Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie im Universum haben wir noch keine eindeutige Ursache gefunden. In der Natur muss es also weitere Prozesse geben, die wir bislang noch nicht kennen. Teilchenphysiker erwarten also, dass das Standardmodell erweitert werden muss. Und wir hoffen, dass wir mit unseren Messungen letztlich auf etwas Unbekanntes stoßen – auf etwas, das die bisherige Theorie nicht erklären kann.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/nachrichten/2018/wie-die-nadel-im-heuhaufen/