„Wie denken Physiker?“

Kim Hermann

Die Abbildung zeigt mehrere Strahlen, die von einem zentralen Punkt ausgehen. Im Hintergrund ist der röhrenförmige CMS-Detektor angedeutet.

CERN/CMS

Die moderne Quantenphysik beschreibt Phänomene auf kleinsten Skalen mit bisher unübertroffener Genauigkeit. Im Laufe des 20. Jahrhunderts waren zahlreiche Physiker an ihrer Formulierung beteiligt. Diese Zeit des Umbruchs in der Physik dient Robert Harlander der RWTH Aachen und seinen Kollegen als ideales Forschungsobjekt, um die Arbeitsweise von Physikern zu untersuchen. Wie sie dabei vorgehen und zu welchen spannenden Erkenntnissen sie bereits gekommen sind, berichtet der theoretische Physiker im Interview mit Welt der Physik.

Welt der Physik: Womit beschäftigt sich Ihre Forschungsgruppe?

Robert Harlander: Wir sind eine interdisziplinäre Gruppe aus Physikern und Geisteswissenschaftlern. Gemeinsam untersuchen wir, wie Physiker neue Erkenntnisse und neue Theorien entwickeln. Ähnlich wie Physiker die Natur studieren, studieren wir die Arbeitsweise von Physikern. Als Fallbeispiel dient uns dabei die Forschung am Large Hadron Collider am Forschungszentrum CERN, kurz LHC. Dort stoßen kleinste Teilchen bei extrem hohen Energien aufeinander. Um zu beschreiben, was bei diesen Kollisionen passiert, nutzen Physiker Konzepte aus der Quantenphysik, die wir wiederum aus philosophischer, historischer und soziologischer Sicht untersuchen. In einem aktuellen Projekt betrachten wir das Konzept der sogenannten virtuellen Teilchen. Diese virtuellen Teilchen tauchen zwar in den Rechnungen zu den Kollisionen am LHC auf, hinterlassen aber – anders als die Teilchen, die bei den Kollisionen entstehen – keine Spuren in den Detektoren.

Wofür braucht man diese virtuellen Teilchen dann überhaupt?

Obwohl man virtuelle Teilchen nicht direkt beobachten kann, lassen sich mit ihrer Hilfe zahlreiche Phänomene der Quantenphysik erklären. Nur wenn virtuelle Teilchen in die Rechnungen einbezogen werden, lässt sich das Ergebnis eines quantenphysikalischen Experiments präzise vorhersagen. Als theoretischer Teilchenphysiker nutze ich das Konzept der virtuellen Teilchen also tagtäglich. Gemeinsam mit meinen Kollegen aus der Wissenschaftsgeschichte habe ich mich nun gefragt, wie dieses Konzept überhaupt entstanden ist und sich im Laufe der Zeit in der Quantenphysik etabliert hat. Um diesen Fragen nachzugehen, untersuchen wir Schriften, die Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden sind – als zahlreiche Physiker an der Formulierung der Quantenphysik arbeiteten.

Haben Sie dabei bereits erste Erkenntnisse gewonnen?

Ja, uns ist vor allem aufgefallen, dass der Begriff „virtuell“ in verschiedenen Zusammenhängen auftaucht und zunächst keine eindeutige Definition besitzt. Zum ersten Mal wird er in den 1920er-Jahren in einer Arbeit von Niels Bohr, Hans Kramers und John Slater erwähnt. Ihr Ansatz, quantenphysikalische Phänomene zu verstehen, führte zwar in eine Sackgasse, der Begriff „virtuell“ hat sich allerdings in der Quantenphysik durchgesetzt. Zuerst jedoch mit einem eher abwertenden Unterton: Für seine Berechnungen führte Paul Dirac verschiedene Übergänge zwischen Zuständen eines physikalischen Systems ein, bei denen die üblichen Erhaltungssätze außer Kraft gesetzt waren. Der Physiker Chandrashekhara Venkata Raman bestand darauf, dass diese Übergänge nur als mathematisches Hilfsmittel angesehen werden können. Dementsprechend bezeichnete er sie als „virtuell“, also nicht wirklich existent.

Wie hat sich das Konzept des virtuellen Teilchens dann durchgesetzt?

Die Abbildung zeigt zwei geknickte Linien, die an den Knickpunkten über eine kurvige Linie miteinander verbunden sind.

Feynman-Diagramm

Der Nobelpreisträger Richard Feynman entwickelte Ende der 1940er-Jahre eine Methode, um Wechselwirkungen von quantenmechanischen Teilchen – also auch Teilchenkollisionen – grafisch darzustellen. In diesen sogenannten Feynman-Diagrammen spielen virtuelle Teilchen eine zentrale Rolle: Stoßen beispielsweise zwei Elektronen aufeinander, entsteht zunächst ein virtuelles Photon, das Impuls von einem Elektron auf das andere überträgt. Dieser Impulsübertrag kann auf verschiedene Weisen geschehen, was wiederum durch verschiedene Feynman-Diagramme dargestellt wird. Letztlich lässt sich mit dieser Methode sehr effektiv voraussagen, welche Impulsverteilung die Elektronen nach ihrem Zusammenstoß haben. Und obwohl das virtuelle Photon in keinem Detektor nachweisbar ist, liefert die Beschreibung mit virtuellen Teilchen ein richtiges Ergebnis. Damit wurde das Konzept von virtuellen Teilchen weiter etabliert.

Sind virtuelle Teilchen also nur ein technisches Hilfsmittel oder existieren sie womöglich wirklich?

Das ist eine der interessanten Fragen, die wir uns in unserem Projekt stellen. Physiker können die Beschreibung durch virtuelle Teilchen zwar nutzen, um ihre Experimente zu beschreiben. Die Frage, inwieweit virtuelle Teilchen tatsächlich existieren, bleibt aber eine philosophische. Es wäre beispielsweise denkbar, quantenphysikalische Vorgänge ganz ohne das Konzept von virtuellen Teilchen zu beschreiben. Feynman andererseits sah prinzipiell jedes Teilchen als virtuell an, denn laut den Regeln der Quantenphysik unterliegt jedes Teilchen gewissen Schwankungen – es hat beispielsweise keine klar definierte Energie.

Also ist nicht einmal klar, ob es in der Quantenphysik überhaupt reelle Teilchen gibt?

Die Frage ist, wie man ein Teilchen definiert. Meiner Meinung nach liegt der Ursprung der Verwirrung darin, dass man Konzepte aus der makroskopischen Welt – also der Welt aus unserem Alltag – auf die mikroskopische Quantenwelt überträgt. Bei dem Begriff „Teilchen“ denken die meisten Menschen an ein kleines Objekt, das sich an einem bestimmten Ort im Raum befindet. Doch in der Quantenphysik wird das Objekt, das mit dem gleichen Begriff des Teilchens beschrieben wird, durch andere Eigenschaften charakterisiert. Darüber muss man sich im Klaren sein, wenn man quantenphysikalische Phänomene beschreibt. Mit unserer Arbeit wollen wir mehr Klarheit über physikalische Konzepte und ihren Bedeutungswandel im Laufe der Zeit schaffen.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/wie-denken-physiker/