„Wir betreiben sozusagen galaktische Archäologie“

Dirk Eidemüller

Weltraumaufnahme: wolkenartiges Gebilde zieht sich über das Bild und überdeckt rechts eine Lichtquelle; links in wabenartiger Struktur weitere gepunktete Bilder

ESA-Gaia-DPAC, APOGEE-DR16, AIP/A. Queiroz & StarHorse Team

Um die Geschichte der Milchstraße besser zu verstehen, untersuchen Astronomen bestimmte Sterne in unserer Galaxie – sogenannte Rote Riesen. Dafür sammelten Forscher mit verschiedenenen Teleskopen zunächst Daten der Bahnkurven, Zusammensetzung der Elemente und der Helligkeit von rund hundert dieser uralten Sterne. Aus der Kombination dieser Daten ließ sich dann sowohl das Alter als auch die Herkunft der Roten Riesen bestimmen. Was die neuen Ergebnisse über die Sternentstehung der Milchstraße verraten, erzählt Cristina Chiappini vom Leibniz-Institut für Astrophysik in Potsdam im Interview mit Welt der Physik.

Porträt der Wissenschaftlerin Cristina Chiappini

Cristina Chiappini

Welt der Physik: Woher stammen die Sterne unserer Galaxie?

Cristina Chiappini: Sie sind entweder innerhalb der Milchstraße entstanden oder kommen aus Satellitengalaxien, die irgendwann mit unserer Galaxie verschmolzen sind. Der wichtigste dieser frühen Verschmelzungsprozesse war derjenige mit der Satellitengalaxie Gaia-Enceladus, der vor rund zehn Milliarden Jahren stattgefunden hat. Eine wichtige Fragestellung unserer Forschungsarbeit war deshalb, ob es in der Milchstraße schon vor diesem Verschmelzungsprozess eine starke Sternentstehung gab. Wir betreiben sozusagen galaktische Archäologie.

Und welche der unzähligen Sterne waren nun für Ihre Forschung besonders interessant?

Die große Mehrheit der Sterne kommt für unser jüngstes Forschungsprojekt nicht infrage. Denn wir sind nur an einer bestimmten Klasse sehr alter Sterne interessiert, die im Vergleich zu unserer Sonne nur rund ein Zehntel der chemischen Elemente schwerer als Helium besitzen. Deswegen untersuchen wir sogenannte Rote Riesen. Das sind fast ausgebrannte Sterne, die sich am Ende ihrer Lebensdauer gigantisch aufblähen. Dadurch nimmt ihre Helligkeit zu, sodass wir sie besser beobachten können.

Warum haben Sie sich für die nun analysierten rund hundert Sterne entschieden?

Diese Sterne sind etwas leichter als unsere Sonne und haben etwa achtzig Prozent der Sonnenmasse. Das ist wichtig, weil nur leichte Sterne so alt werden. Unsere Sonne „lebt“ etwa nur neun Milliarden Jahre, bis sie ausgebrannt ist. Wenn wir in die Frühzeit unserer Galaxie schauen und die Herkunft der Sterne zu dieser Zeit analysieren wollen, brauchen wir also etwas leichtere Sterne als unsere Sonne.

Wie können Sie so alte Sterne identifizieren?

Hierzu nutzen wir eine Kombination unterschiedlicher Methoden und Daten von verschiedenen Satelliten. Kurz gesagt untersuchen wir die Bahnkurve eines Sterns, dann seine chemische Zusammensetzung sowie die Schwankungen seiner Helligkeit. Manche Fluktuationen breiten sich wie Erdbebenwellen durch das heiße Plasma eines Sterns aus. Die Untersuchung dieser charakteristischen Schwankungen bezeichnen wir deshalb auch als Asteroseismologie. Aus all diesen Faktoren können wir – auch mithilfe von Computermodellen – sowohl das Alter als auch die Herkunft der Sterne bestimmen. Das hat uns die bislang beste Altersbestimmung von Roten Riesen ermöglicht.

Welche Daten haben Sie verwendet, um das Alter der Sterne zu bestimmen?

Hierzu nutzen wir einerseits die Daten des Apogee-Teleskops in den USA, mit dem wir die Elementzusammensetzung eines Sterns sehr genau bestimmen können. In Kombination mit den Helligkeitsschwankungen können wir daraus das Alter eines Sterns mit inzwischen recht guter Präzision bestimmen. Die Daten der Helligkeitsschwankungen stammen wiederum vom mittlerweile stillgelegten Weltraumteleskop Kepler, das eigentlich als Planetenjäger entwickelt wurde. Darin war es auch sehr erfolgreich, denn es konnte selbst winzige Helligkeitsschwankungen von Sternen messen, wenn ein Planet vor ihnen vorbeizog. Diese Fähigkeit lässt sich aber auch nutzen, um die Fluktuationen auf Roten Riesen zu messen. Da diese von der Elementzusammensetzung und dem Alter des Sterns abhängen, lassen sie sich zur Altersbestimmung nutzen.

Drei Grafiken: links geben elliptische Bahnen die Umlaufbahnen von Sternen an; rechts Koordinatensysteme, die verschiedene Verhältnismäßigkeiten angeben, etwa Anzahl der Sterne zu Alter der Sterne sowie das Verhältnis von Eisen und Magnesium

Sterne in der Milchstraße

Und wie schließen Sie auf den Ursprung der Sterne?

Das Satellitenteleskop Gaia und das Apogee-Teleskop liefern uns sehr präzise Daten zur Position und Bewegungsrichtung von Sternen sowie zu ihrer chemischen Zusammensetzung. Daraus lässt sich dann die Herkunft bestimmen. Denn Sterne, die in der Scheibe der Milchstraße entstanden sind, laufen dort meistens immer noch ruhig im Kreis. Die ältesten Sterne der Milchstraße haben aber sehr viel weniger „geordnete“ Trajektorien. Sterne, die aus einer Satellitengalaxie stammen, fliegen ebenfalls in wenig geordneten Trajektorien über und unter der galaktischen Scheibe hinaus und haben eine andere chemische Zusammensetzung als Sterne, die in der Milchstraße entstanden sind.

Was sagen uns die uralten Sterne über die Geschichte unserer Galaxie?

Viele der über zehn Milliarden Jahre alten Roten Riesen stammen aus der Milchstraße – also aus der Zeit vor der Verschmelzung mit der Satellitengalaxie Gaia-Enceladus. Also gab es schon vor dieser Galaxienverschmelzung, quasi in der frühen Jugend der Milchstraße, eine Phase aktiver Sternentstehung in unserer Galaxie. Das ist natürlich nicht nur für die Geschichte unserer eigenen Galaxie, sondern allgemein für das Verständnis des Kosmos interessant.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/universum/sterne/wir-betreiben-sozusagen-galaktische-archaeologie/