„Faszinierende Parallelen zum menschlichen Gehirn“

Kim Hermann

Die Aufnahme zeigt ein verzweigtes Netz aus unterschiedlich dicken Adern.

Hans-Günther Döbereiner

Schleimpilze sind Einzeller und besitzen weder Gehirn noch Nervenzellen. Dennoch sind sie in der Lage, auf der Suche nach Futter effiziente Netzwerke aufzubauen und Hindernisse zu überwinden. Diese erstaunliche Fähigkeit stellt Wissenschaftler aus den unterschiedlichsten Disziplinen bislang vor ein Rätsel. Auch Hans-Günther Döbereiner von der Universität Bremen und seine Kollegen untersuchen die Eigenschaften von Schleimpilzen. Welche verblüffenden Parallelen zum menschlichen Gehirn sie dabei erforschen, berichtet der Biophysiker im Interview mit Welt der Physik.

Welt der Physik: Was ist ein Schleimpilz?

Die Aufnahme zeigt den Physiker Hans-Günther Döbereiner.

Hans-Günther Döbereiner

Hans-Günther Döbereiner: Der Schleimpilz ist – auch wenn sein Name es vermuten lässt – kein Pilz. Es handelt sich um einen Einzeller, der sich vor über einer Milliarde Jahren von einem gemeinsamen Vorfahren mit Pilzen, Pflanzen und Tieren abgespaltet hat. Im Laufe dieser Zeit hat sich der Schleimpilz nur wenig weiterentwickelt und stellt daher eine besonders ursprüngliche Form des Lebens dar. Wir betrachten in unserer Forschung eine spezielle Art der Schleimpilze: Physarum polycephalum. Dieser Schleimpilz kann sogar mehrere Quadratmeter groß werden und ist trotzdem nur eine einzige Zelle. Wächst der Schleimpilz, teilen sich – anders als etwa beim Menschen – nicht die ganzen Zellen, sondern lediglich die Zellkerne. Eine Zelle kann so je nach Größe mehrere Milliarden Zellkerne umfassen, die zusammen mit der Zellflüssigkeit durch die Zelle fließen.

Was ist das Besondere an Schleimpilzen?

Schleimpilze bilden verzweigte Adersysteme, mit denen sie hauptsächlich nach Futter suchen – also nach organischem Material wie etwa Blättern oder auch Haferflocken. Dabei zieht sich das um die Adern gewundene Zellskelett der Schleimpilze ähnlich wie ein Muskel zusammen und drückt die Einzeller so vorwärts. Auf ihrer Suche nach Nahrung leisten sie Erstaunliches: In einem Experiment haben Forscher zwischen einen Schleimpilz und seine Futterquelle ein U-förmiges Hindernis platziert. Zunächst bewegte sich der Schleimpilz in das Hindernis hinein und suchte eine Weile nach Futter. Wird er dort jedoch nicht fündig, bewegt er sich wieder aus dem Hindernis heraus und umgeht es. Haben Schleimpilze einmal mehrere Futterquellen gefunden, verbinden sie diese auf dem direktesten Weg miteinander. Dabei bilden Schleimpilze ein hocheffizientes Netzwerk aus Adern, in denen die Zellflüssigkeit fließen kann und Nährstoffe transportiert werden. Auch andere komplexe Aufgaben – wie etwa den kürzesten Weg in einem Labyrinth zu finden – meistern Schleimpilze problemlos.

Wie schaffen sie das?

Das Verhalten des Schleimpilzes zeigt, dass er Informationen über seine Umgebung aufnehmen und verarbeiten kann – und das ohne Gehirn. Um zu verstehen, wie das möglich ist, lohnt sich ein Blick auf die Zellflüssigkeit des Schleimpilzes. Diese Flüssigkeit schwingt nämlich ständig in den Adern hin und her und beeinflusst so die Bewegung des Schleimpilzes. Sobald der Schleimpilz Futter findet, schwingt die Flüssigkeit stärker und der Schleimpilz strukturiert sich um: Die Adern, durch die viel Flüssigkeit fließt, werden dicker, während sich die übrigen Adern verkleinern. Vergleicht man nun die Muster dieser Schwingungen im Schleimpilz mit elektrischen Signalen in einem Gehirn, findet man erstaunliche Parallelen.


Hans-Günther Döbereiner

Die Zellflüssigkeit strömt durch die Adern der Schleimpilze und transportiert dabei Nähr- und Botenstoffe.


Bedeutet das, dass der Schleimpilz ähnlich wie ein Mensch denken kann?

Nein, diese Parallelen bedeuten nicht, dass der Schleimpilz menschliche Eigenschaften besitzt oder gar ein Bewusstsein hat. Allerdings ist es gut möglich, dass der Schleimpilz die Informationen mit ähnlichen Mechanismen wie ein Gehirn verarbeitet. Beim Vergleich der Schwingungsmuster erscheint uns die Art und Weise, wie sich verschiedene Schwingungen überlagern und synchronisieren, besonders wichtig. Doch wie die Informationsverarbeitung genau funktioniert, wissen wir noch nicht.

Wie erforschen Sie das in Ihren Experimenten?

Der Schleimpilz ist ein ideales Forschungsobjekt, da er viel einfacher aufgebaut ist als ein menschliches Gehirn. So können wir einerseits mit dem bloßen Auge sein makroskopisches Verhalten untersuchen – etwa wie er sich während eines Experiments fortbewegt. Andererseits können wir mit einem Mikroskop ins Innere des Schleimpilzes schauen und genau beobachten, welche Prozesse dabei auf mikroskopischer Skala ablaufen. Unser Ziel ist es, diese beiden Ebenen miteinander zu verbinden und die Zusammenhänge von makroskopischer und mikroskopischer Skala zu verstehen.

Wie weit sind Sie bereits mit Ihrer Forschung?

Innerhalb der letzten zehn Jahre haben wir den Schleimpilz ausgiebig erforscht. Wir wissen nun, wie er im Detail aufgebaut und strukturiert ist. Außerdem haben wir ein mathematisches Modell entwickelt, mit dem wir die zeitliche Entwicklung der Netzwerke, die der Schleimpilz beispielsweise bei der Futtersuche bildet, beschreiben können. Im nächsten Schritt wollen wir Experimente wiederholen, in denen der Schleimpilz komplexe Probleme löst und dabei die Schwingungen der Zellflüssigkeit im Detail untersuchen. So erhoffen wir uns, die grundlegenden Mechanismen der Informationsverarbeitung besser zu verstehen.

Lassen sich mit dem Schleimpilz noch weitere Fragen untersuchen?

Der Schleimpilz findet aufgrund seiner spannenden Eigenschaften in den unterschiedlichsten Bereichen eine Anwendung als Modellsystem – von der Logistik über die Verhaltensökonomie bis hin zur Künstlichen Intelligenz. Auch in der physikalischen Grundlagenforschung kann der Schleimpilz als Modellsystem dienen. So suchen wir beispielsweise mit dem Schleimpilz nach physikalischen Gesetzen, die beschreiben, wie sich lebende Systeme ausbilden und entwickeln können. Dazu gibt es zwar einige Theorien aus der Biologie, aber die physikalischen Hintergründe sind bisher noch nicht bekannt. Wir hoffen, mit dem Schleimpilz vielen dieser fundamentalen Fragen auf die Spur zu kommen.


Hans-Günther Döbereiner

Fragmente eines Schleimpilzes verbinden sich zu einem Netzwerk.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/leben/faszinierende-parallelen-zum-menschlichen-gehirn/