„Genaueres Verständnis des menschlichen Körpers“

Dirk Eidemüller

Röntgenaufnahme eines Lungenflügels, verschiedene Farben markieren offene und verschlossene Blutgefäße

Tafforeau/ESRF

Mit den hochbrillanten Röntgenstrahlen der Synchrotronquelle ESRF in Grenoble wird es erstmals möglich sein, auch große menschliche Organe und sogar den ganzen Körper in bislang unerreichter Präzision zu durchleuchten. Dieses Projekt mit dem Namen „Human Organ Atlas“ ist mit der Lunge von Covid-19-Opfern gestartet und soll nun auch über andere Organe Aufschluss bringen. Im Interview mit Welt der Physik sprechen Peter Lee vom University College London und Simon Zabler vom Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen in Deggendorf über die Hintergründe der neuen Technologie.

Welt der Physik: Welche Röntgentechniken gibt es, um menschliche Organe zu untersuchen?

Porträt des Wissenschaftlers Peter Lee

Peter Lee

Peter Lee: Es gibt heute verschiedene Methoden, um mit Röntgenstrahlung den menschlichen Körper oder einzelne Teile von ihm zu untersuchen. Je nachdem, wie groß das zu untersuchende Gewebe ist, lassen sich dabei unterschiedliche Auflösungen erzielen. Für die klinische Anwendung etwa sind Computertomografen, also CT, das Mittel der Wahl. Sie erlauben aber nur gröbere Auflösungen von etwa einem halben Millimeter bei Organen von lebenden Patienten. Bei totem Gewebe kann man mit stärkeren Röntgenstrahlen arbeiten und erhält dann eine Auflösung von rund einem zehntel Millimeter. Unsere neue Röntgentechnik gibt uns die Möglichkeit, den gesamten Körper mit einer Genauigkeit von rund zwanzig Mikrometern zu untersuchen. Außerdem lässt sich nach Belieben in einzelne Bereiche hineinzoomen – lokal ebenfalls mit einer Präzision von unter einem Mikrometer.

Und damit wollen Sie eine Art Landkarte des menschlichen Körpers erstellen?

Ich muss zunächst dazu sagen, dass unsere Methode nicht für den klinischen Einsatz am lebenden Patienten geeignet ist. Dafür sind die von uns genutzten Röntgenstrahlen viel zu stark und gefährlich. Unsere Forschungsgruppe nutzt Organe oder Körper von Verstorbenen, die wir für die medizinische Forschung untersuchen. Mit unserem Projekt, dem Human Organ Atlas, werden wir ein vielfach genaueres Verständnis von der Funktionsweise des menschlichen Körpers und von verschiedenen Krankheiten erlangen können, als es mit anderen Techniken möglich ist. Denn durch die hochaufgelösten Aufnahmen von ganzen Organen oder sogar dem ganzen Körper lassen sich systemische Zusammenhänge besser erkennen – wie zum Beispiel der Blutkreislauf oder die Nervenbahnen zwischen und innerhalb von Organen miteinander verbunden sind. Dadurch lassen sich auch Pathologien viel besser erfassen.

Welche Arten von Gewebe haben Sie denn bislang schon untersucht?

Wir haben die Lunge von Patienten untersucht, die an einer Covid-19-Infektion verstorben sind. Dabei haben wir starke Hinweise gefunden, dass das vaskuläre System sich bei einer starken Erkrankung bei vielen Patienten verändert hat – dass sich also die feinen Blutgefäße sozusagen falsch verbunden haben, und zwar über große Teile des Lungengewebes hinweg. Diese Erkenntnis ließ sich mit den herkömmlichen Methoden nicht gewinnen. In Zukunft wollen wir aber insbesondere das Gehirn und das Nervensystem sowie das Herz untersuchen. Das wird uns hoffentlich Aufschluss über neurodegenerative Krankheiten oder Herzerkrankungen geben.

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Wie funktioniert die neue Methode denn im Vergleich zu einem herkömmlichen CT?

Das hängt ein Stück weit von der jeweiligen medizinischen Fragestellung ab. Genau wie bei der Computertomografie scannen wir das zu untersuchende Gewebe aus verschiedenen Richtungen. Bei uns rotiert allerdings nicht die Sende- und Empfangseinheit um den Körper, denn die extrem brillanten Röntgenstrahlen des ESRF kommen aus einem fest installierten, mehrere hundert Meter großen Beschleunigerring. Stattdessen rotieren wir auf einer viele Tonnen schweren und extrem genau arbeitenden Halterung die Organe oder den ganzen Körper, um sie von verschiedenen Seiten zu durchleuchten. Bei maximaler Auflösung sind wir gut einen Faktor hundert genauer als eine herkömmliche Computertomografie an totem Gewebe. Wir haben in allen drei Raumdimensionen also eine Million Mal mehr Daten.

Herkömmliche Röntgenaufnahmen werden mit wesentlich schwächeren Röntgenstrahlen gemacht. Warum braucht man für den Human Organ Atlas eine derart starke Röntgenquelle?

Porträt des Wissenschaftlers Simon Zabler

Simon Zabler

Simon Zabler: Das hängt mit der Art der Aufnahme zusammen. Dies hier ist keine gewöhnliche Röntgenaufnahme oder Radiografie, sondern eine sogenannte Phasenkontrast-Aufnahme. Vereinfacht gesagt, schwingen die Röntgenstrahlen des ESRF fast alle im gleichen Takt. Wenn sie durch unterschiedlich dichtes Gewebe treten, gerät dieser Takt auseinander, was wir wiederum mit speziellen Detektoren messen können. Nun ist dieser Effekt in weichem Körpergewebe sehr gering, weshalb wir extrem starke Röntgenstrahlung und eine mehrere Meter lange Messapparatur benötigen. Ursprünglich kommt die Phasenkontrast-Röntgentechnik aus der Paläontologie, weil sie in dichtem Material wie etwa versteinerten Dinosaurierzähnen sehr viel einfacher umzusetzen ist.

Wie sieht die Messapparatur aus?

Im Prinzip ist die gesamte, mehrere Dutzend Meter lange „Experimentierhütte“ ein großer CT-Scanner, den das ESRF in Kooperation mit der Fraunhofer-Gesellschaft und gefördert durch das BMBF entwickelt. Hinter dem Messobjekt stehen bei der neuen Strahllinie BM18 insgesamt neun Röntgenkameras, mit denen die parallel eintreffenden Röntgenstrahlen aufgenommen werden. Da wir die Kameras bis zu 35 Meter hinter das Objekt fahren können, erhalten wir einen sehr großen Phasenkontrast. Das ist weltweit einmalig! Mit dieser Messapparatur werden Lee und sein Team dann in Zukunft an unserer Strahllinie weiter am Human Organ Atlas arbeiten. Der Scanner ist seit Anfang 2022 im Einsatz, wird aber bis Ende dieses Jahres bis zur endgültigen Ausbaustufe nachgerüstet.

Welche anderen Projekte, außer dem Human Organ Atlas, sollen zukünftig mit dem CT-Scanner umgesetzt werden?

Ein Langzeitprojekt, das hier weiterverfolgt werden soll, behandelt Schmelz- und Gefriervorgänge. Auf mikroskopischer Ebene soll bei der additiven Fertigung das Aufschmelzen von Metallen beobachtet werden und zwar sowohl dreidimensional als auch über einen festen Zeitraum verfolgt – wir nennen das 4D. Ein weiteres Thema, das wir an der Strahllinie BM18 untersuchen, ist die Alterung von Lithium-Ionen-Akkus. Dieses können wir dank des Verfahrens der hierarchischen Tomografie sowohl zeitaufgelöst als auch in verschiedenen Zoom-Stufen zerstörungsfrei untersuchen. Die neue Technik lässt sich also nicht nur für biologische Fragestellungen anwenden.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert das Projekt „BM18: High resolution industrial tomography beamline for large objects“ im Zeitraum von Januar 2020 bis Januar 2023 mit rund 6 500 000 Euro.

Fördersumme: 6 501 062 Euro

Förderzeitraum: 01.01.2020 bis 31.12.2022

Förderkennzeichen: 05E19AN1, 05E20WW1, 05E20WP1

Beteiligte Institutionen: Fraunhofer EZRT, Universität Würzburg, Universität Passau

Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/bmbf/erforschung-kondensierter-materie/roentgenstrahlung-genaueres-verstaendnis-des-menschlichen-koerpers/