„Eine große Überraschung“

Dirk Eidemüller

Großes Teleskop auf einer Wiese. Im Hintergrund ist der Himmel ohne Wolken zu sehen.

Tomohiro Inada/Cherenkov Telescope Array Observatory

In den letzten Jahren haben Astronominnen und Astronomen mehrere rätselhafte Gammastrahlenquellen in der Milchstraße entdeckt. Die bislang unbekannten Objekte senden vor allem extrem hochenergetische Gammastrahlen aus, aber viel weniger niederenergetische als eigentlich erwartet. Mithilfe einer umfangreichen Messkampagne mit unterschiedlichen Teleskoptypen versuchte ein Forschungsteam nun, eine dieser Quellen zu identifizieren. Im Interview mit Welt der Physik berichten Razmik Mirzoyan vom Max-Planck-Institut für Physik in München und Karl Mannheim von der Universität Würzburg von dieser Suche.

Welt der Physik: Was ist das Ungewöhnliche an den rätselhaften Gammastrahlungsquellen?

Porträt des Wissenschaftlers Razmik Mirzoyan

Razmik Mirzoyan

Razmik Mirzoyan: In den letzten Jahren wurden einige Objekte gefunden, die extrem energiereiche Gammastrahlen abgeben. Wir sprechen hier von Energien im Bereich von Petaelektronenvolt – die Vorsilbe „Peta“ steht für eine Eins mit 15 Nullen. Diese hohe Energie ist in einzelnen Photonen, also einzelnen Lichtteilchen, konzentriert. Damit ist die Energiemenge pro Teilchen mehr als hundertfach höher als die Teilchenenergien, die beim weltstärksten Teilchenbeschleuniger, dem Large Hadron Collider am Forschungszentrum CERN, erreicht werden. Nur außergewöhnliche Objekte sind in der Lage, solch hohe Teilchenenergien zu erzeugen. Das Besondere der nun entdeckten Quellen ist, dass wir nur sehr wenig niederenergetische Gammastrahlung sehen, obwohl diese eigentlich auch erzeugt werden sollte. Das stellt uns bislang vor ein Rätsel, denn wir wissen nicht, mit welcher Art von Quelle wir es hier zu tun haben.

Wie lässt sich die hochenergetische Gammastrahlung denn beobachten?

Um Gammastrahlen nachzuweisen, kommen sehr unterschiedliche Methoden zum Einsatz, die man oft in Messkampagnen mit unterschiedlichen Teleskopen durchführt. Hochenergetische Gammastrahlung erstreckt sich über einen riesigen Energiebereich, deshalb benötigt man unterschiedliche Arten von Observatorien. Vergleichsweise niederenergetische Photonen können beispielsweise mit Weltraumobservatorien wie dem XMM-Newton der ESA oder dem Fermi Gamma-ray Space Telescope detektiert werden. Diese Satelliten können im Orbit Beobachtungen anstellen, ohne von der Atmosphäre gestört zu werden. Ihre Teleskopfläche ist jedoch für höherenergetische Gammastrahlung viel zu klein. Derart energiereiche Photonen sind sehr selten, denn allgemein gilt: Je höher die Energie, desto seltener die Photonen. Dementsprechend benötigt man für den Nachweis der hochenergetischen Gammastrahlung einen Detektor, der eine sehr große Fläche abdeckt. Das ist zum Beispiel bei sogenannten Tscherenkow-Teleskopen der Fall. Mit einem solchen neuen Teleskop, dem LST-1, haben wir jetzt auch eine der Gammastrahlungsquellen in der Milchstraße beobachtet.

Was ist das für ein Teleskop?

Das Tscherenkow-Teleskop LST-1 ist ein Großteleskop, wobei der Name LST für Large-Sized Telescope steht. Es hat einen Spiegel mit einem Durchmesser von 23 Metern, ist 45 Meter hoch und rund 100 Tonnen schwer. Einige weitere kleinere Teleskope dienen als Ergänzung, wie etwa zwei MAGIC-Teleskope mit jeweils einem Durchmesser von 17 Metern. Das Großteleskop LST-1 ist bereits in Betrieb und dient als Prototyp für drei weitere Großteleskope, die sich derzeit noch im Bau befinden. Insgesamt sollen die vier Teleskope zu einem Verbund zusammengeschlossen werden, wobei einige weitere kleinere Teleskope als Ergänzung dienen. Die gesamte Anlage befindet sich auf einem Berg auf der spanischen Insel La Palma, da dort sehr gute Beobachtungsbedingungen vorherrschen. Diese Anlage wird in Zukunft gemeinsam mit einer ähnlichen Anlage, die in Chile geplant ist, ein globales Observatorium bilden – das Cherenkov Telescope Array, kurz CTA.

Wie funktionieren Tscherenkow-Teleskope?

Grafik des LST-1: ein metallener Aufbau mit einer großen Parabolschüssel darauf

Großteleskop LST-1

Wir blicken mit den Teleskopen zwar in Richtung der galaktischen Quellen, beobachten sie aber mithilfe der Erdatmosphäre. Denn wenn ein sehr energiereiches Gammaphoton in diese eintritt, erzeugt es etwa durch Kollisionen mit den Molekülen und Atomen in der Erdatmosphäre einen kilometergroßen Luftschauer aus Tausenden von neuen Teilchen. Diese Sekundärteilchen breiten sich wie ein Kegel entlang der Richtung des ursprünglichen Gammaphotons aus. Dabei senden die Sekundärteilchen in der Atmosphäre ein bestimmtes bläuliches Licht aus – die sogenannte Tscherenkow-Strahlung. Und diese Strahlung können wir messen und die Richtung bestimmen, aus der das ursprüngliche Gammaphoton gekommen ist. Es gibt andere Arten von Teleskopen, die Wassertanks oder Wasserteiche auf dem Boden verwenden, um nach anderen Partikeln aus solchen Luftschauern zu suchen.

Warum lässt sich mithilfe von Gammastrahlung in der Erdatmosphäre etwas über die Richtung der Quelle herausfinden?

Im Gegensatz zu anderen hochenergetischen Teilchen wie Protonen oder Elektronen hat Gammastrahlung keine elektrische Ladung. Sie kommt deshalb genau aus der Richtung ihrer Quelle zu uns – so wie sichtbares Licht oder Radiowellen. Geladene Teilchen werden von den galaktischen Magnetfeldern abgelenkt, so dass man ihren Ursprung nicht einfach ermitteln kann.

Was haben Sie nun mit LST-1 über die untersuchte Gammastrahlungsquelle herausgefunden?

Wir haben die Quelle mit dem Namen LHAASO J2108+5157 für 49 Stunden mit dem LST-1 Tscherenkow-Teleskop beobachtet. Das Ungewöhnliche ist, dass wir trotz der hohen Empfindlichkeit des Teleskops – das auf dem modernsten Stand der Technik ist – keine sicher bestätigte Quelle finden konnten, sondern bislang nur gewisse Indizien. Diese Quelle sendet also ungewöhnlich wenig Gammastrahlung mit niedriger Energie aus, aber dafür außergewöhnlich viel hochenergetische Gammastrahlung. Das war für uns eine große Überraschung.

Gibt es eine Erklärung für dieses eigenartige Verhalten?

Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie man verschiedene Teile der Messungen erklären könnte, aber noch kein abschließendes, klares Ergebnis. Es könnte sich vielleicht um einen sogenannten Pulsarwindnebel handeln. Das ist ein nebelförmiges Objekt, das sich um einen Pulsar bildet – also um einen rotierenden Neutronenstern, der starke Strahlung aussendet. Doch eigentlich müsste von diesen beiden Objekten viel mehr niederenergetische Gammastrahlung ausgehen. Es könnte sich bei LHAASO J2108+5157 aber auch um Gammastrahlung aus den Überresten einer Supernova handeln – also aus den expandierenden Gaswolken, die sich nach einer Sternexplosion bilden. Wir werden noch einige weitere Untersuchungen abwarten müssen, bevor wir diese Quelle wirklich identifizieren können.

Wie möchten Sie diese weiteren Untersuchungen durchführen?

Das Bild zeigt ein Porträt des Forschers im Anzug.

Karl Mannheim

Karl Mannheim: Unsere Vorstellungen vom komplexen Zusammenspiel zwischen Supernova-Überresten, Pulsaren, Pulsarwindnebeln und den umgebenden Molekülwolken sind noch sehr fragmentarisch. Die beschleunigten Teilchen der kosmischen Strahlung können etwa selbst in sehr dichte Gaswolken eindringen und dort Atome ionisieren. Damit spielen sie eine Schlüsselrolle für die Entstehung der Moleküle in den Gaswolken. Die CTA-Teleskope, zu denen ja auch LST-1 zählen wird, werden uns in Zukunft entscheidend dabei helfen, viele der aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Aufgrund der bislang nicht nachgewiesenen niederenergetischen Gammastrahlung spricht einiges für diese sogenannte hadronische Interpretation und somit einen direkten Nachweis eines Prozesses, der die kosmische Strahlung auf Petaelektronenvolt beschleunigt.

Welchen Beitrag haben Sie und Ihr Team dafür geleistet?

Durch Datenanalysen, Beobachtungsplanung, Messschichten, die Auswertung sicherheitsrelevanter Sensordaten oder die Entwicklung von Lösungen zur Umstellung auf erneuerbare Energien – im speziellen für den Betrieb von Teleskopen in Naturschutzgebieten – stellen wir dem zukünftigen CTA-Observatorium unser Know-How zur Verfügung. Außerdem vertiefen wir die wissenschaftlichen Fragestellungen durch die Entwicklung theoretischer Modelle, insbesondere im Bereich der Entstehung, Ausbreitung und Beschleunigung von relativistischen Teilchen im Universum.

Welche weiteren Pläne haben Sie für die Zukunft?

In den nächsten Jahren wird der Bau auf La Palma abgeschlossen und wir werden über ein Teleskopfeld mit unter anderem vier LST-Teleskopen verfügen. Damit möchten wir Fortschritte bei der Aufklärung der rätselhaften, extrem energiereichen Gammastrahlung erzielen. Wir werden aber auch auf theoretischer Seite besser verstehen müssen, ob Pulsarwindnebel als Beschleuniger von Protonen und Ionen wichtig sind – so wie wir es etwa für die relativistischen Jets in aktiven Galaxienkernen schon lange vermuten. In der Multimessenger Astronomie wird es zukünftig besonders spannend werden, wenn etwa auch mit den Neutrinoobservatorien IceCube und KM3NeT eine weiter zunehmende Zahl von solchen Quellen-Assoziationen nachgewiesen werden. Dadurch könnte es möglich werden, dass Rätsel der kosmischen Strahlung gemeinsam zu lösen.

Wenn Sie Videos von YouTube anschauen, werden Daten an YouTube in die USA übermittelt.

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Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert das Projekt „CTA: Cherenkov Telescope Array. Teilprojekt 8“ im Zeitraum von Juli 2023 bis Juni 2026 mit rund 350 000 Euro.

Fördersumme: 348 770 Euro

Förderzeitraum: 01.07.2023 bis 30.06.2026

Förderkennzeichen: 05A23WW2

Beteiligte Institutionen: Universität Würzburg

Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/bmbf/astro-und-astroteilchenphysik/grossteleskope-eine-grosse-ueberraschung/