Die Entdeckung und Erforschung der Neutrinos

Michael Büker

Eine etliche Meter große Kugel hängt in einer unterirdischen Höhle. Sie ist gleichmäßig mit vielen zylinderförmigen Anschlüssen gespickt.

Den Nobelpreis für Physik teilen sich im Jahr 2015 die beiden Physiker Takaaki Kajita und Arthur McDonald für „die Entdeckung der Neutrinooszillationen, die zeigt dass Neutrinos eine Masse haben“ – so das Nobelpreiskomitee. Es ist bereits der vierte Physik-Nobelpreis für die Neutrinoforschung.

Neutrinos sind eine Sorte von Elementarteilchen, die in vielen Kernreaktionen eine Rolle spielen, etwa bei radioaktiven Zerfällen von Atomkernen, den Fusionsreaktionen im Inneren von Sternen und sogar bei Supernova-Explosionen, die am Ende der Existenz mancher schwerer Sterne stehen. Es gibt drei Sorten von Neutrinos, die mit den drei leichten geladenen Elementarteilchen Elektron, Myon und Tau verbunden sind. Neutrinos dieser drei Sorten wandeln sich aber auch ständig in sogenannten Neutrinooszillationen ineinander um. Der Nachweis solcher Neutrinooszillationen in zwei unabhängigen Versuchen – dem SNO-Experiment in Kanada sowie dem Kamiokande-Experiment in Japan – wurde mit dem Physik-Nobelpreis 2015 an jeweils einen Wissenschaftler der beiden Experimente geehrt.

Doch Neutrinos überhaupt nachzuweisen ist alles andere als einfach, wie Kai Zuber, Neutrinophysiker an der Technischen Universität Dresden, erklärt:

Ein fröhlich blickender Herr mittleren Alters mit einem Schnauzbart und einer Brille

Kai Zuber

Kai Zuber: „Wenn Sie unendlich clever sind, können Sie alles in der Welt mit vier Kräften erklären: Mit der Gravitation, also warum Gegenstände sich anziehen, die eine Masse haben; mit dem Elektromagnetismus: Ladungen, die sich abstoßen oder anziehen; der sogenannten Starken Kraft oder Kernkraft, die dafür sorgt dass überhaupt so viele Plus-Ladungen in einem Atomkern zusammenbleiben, die sich ja eigentlich abstoßen würden; und eben die sogenannte Schwache Kraft oder Schwache Wechselwirkung, die für Radioaktivität und Zerfälle verantwortlich sind.“

Wie auch bei anderen Fragestellungen der Teilchenphysik üblich, spielt die Gravitation für Neutrinos praktisch keine Rolle, da sie um viele Größenordnungen schwächer ist als die anderen Kräfte.

„Das Neutrino hat auch keine Ladung, nimmt also auch nicht am Elektromagnetismus teil; das Neutrino ist auch kein Atomkern-Baustein, ist also auch nicht dieser Starken Kraft ausgesetzt, und die einzige Wechselwirkung, die es eben hat ist die Schwache Kraft, und die hat ihren Namen nicht umsonst, weil Schwache Kraft heißt praktisch: Die Neutrinos wechselwirken gar nicht oder kaum. Das heißt, jeder Versuch dieser Dinger habhaft zu werden ist extrem anspruchsvoll.“

Die Anfänge der Neutrinophysik

Den ersten Hinweis auf die Existenz von Neutrinos lieferten Messungen des Betazerfalls von Atomkernen. Beim Beta-Zerfall verwandelt sich ein Neutron in einem Atomkern in ein Proton, wodurch sich auch der Kern in ein anderes chemisches Element verwandelt. Außerdem wird ein Elektron ausgesandt – doch Messungen der Energie genau dieser Elektronen offenbarten in den 1920er-Jahren ein schwerwiegendes Problem.

Wenn am Zerfall tatsächlich nur zwei Teilchen beteiligt waren – nämlich das Neutron und das Elektron – dann müsste nach dem Energieerhaltungssatz die Energie der Elektronen stets die gleiche sein. Stattdessen beobachtete man aber, dass die Elektronen ganz verschiedene Energien ausweisen konnten. Es stellte sich die Frage, wie sich die Beobachtungen erklären ließen, ohne den Grundsatz der Energieerhaltung in der Physik aufgeben zu müssen.

„Das hat die Leute sehr verwirrt für über 10 Jahre, weil das eigentlich auch nur Zweikörperzerfälle waren. Die eigentliche Einführung des Neutrinos kam dann durch den Herrn Pauli, den man vielleicht aus der Chemie noch kennt oder aus dem Pauli-Prinzip, der hat am 4. Dezember 1930 einen legendären Brief an die Gauvereins-Tagung in Tübingen geschrieben und hat behauptet, er hätte einen verzweifelten Ausweg für das Problem, wenn man noch ein zweites Teilchen in diesem Betazerfall – also ein Dreikörperzerfall demzufolge – macht, wobei dieses zweite Teilchen dem Experiment entkommt.”

Paulis knapper Brief an die Tagung, überschrieben mit „Liebe Radioaktive Damen und Herren“, schlägt erstmals jenes Teilchen vor, das später von Enrico Fermi auf den Namen „Neutrino“ getauft wurde. Das Problem der verschiedenen Elektronen-Energien im Betazerfall soll dadurch gelöst werden, dass sich das Elektron und das Neutrino die im Zerfall freiwerdende Energie gewissermaßen teilen müssen:

„Das ist so ähnlich als wenn Sie jetzt allein zuhause sitzen und essen einen Kuchen oder eine Pizza. Wenn Sie sie alleine essen, kriegen Sie immer die ganze Pizza. Wenn Sie dagegen zu zweit essen, dann hängt es davon ab, wie schnell Sie essen: Mal kriegen Sie mehr und mal kriegen Sie weniger – und so teilen sich eben Elektron und Neutrino die Energie aus dem Betazerfall, mal so und mal so.“

Fotografie einer Blasenkammer-Aufnahme mit farbig markierten Teilchenspuren.

Eine Neutrino-Reaktion in einem Teilchenexperiment

Obwohl Pauli seinen Vorschlag als „verzweifelten Ausweg“ bezeichnet und für wenig wahrscheinlich erklärt hatte, wurde die Existenz des Neutrinos kurz vor seinem Tod Ende der 1950er-Jahre bewiesen – eine Entdeckung, die schließlich 1995 mit dem Physik-Nobelpreis geehrt wurde.

Infolge dieser Entdeckung kam die Vermutung auf, dass auch an den Kernfusions-Reaktionen, die sich im Inneren der Sonne abspielen, Neutrinos beteiligt sein könnten. Eine Messung solcher solaren Neutrinos auf der Erde könnte einen einmaligen Einblick in das Innere der Sonne bieten. Der Nachweis von Neutrinos aus Kernreaktoren und Teilchenbeschleunigern war bereits gelungen, doch eine Entdeckung solarer Neutrinos stand vor einem entscheidenden Problem: Der erwartete Fluss von Neutrinos war so klein, dass nur eine außerordentlich geringe Zahl an Reaktionen am Erdboden zu erwarten wäre.

Das Homestake-Experiment

Auf der Suche nach einem geeigneten Mechanismus für einen solchen Nachweis stieß der Physiker Ray Davis auf die Vorhersage seines Kollegen John Bahcall, dass Atomkerne des Isotops Chlor-37 Neutrinos einfangen und sich dabei in Argon-37 verwandeln könnten. Berechnungen ergaben, dass in etwa 600 Tonnen Chlor eine einzige solche Umwandlung pro Tag zu erwarten wäre. Ray Davis fasste den Plan, diesen Versuchsaufbau zu verwirklichen.

„Die Frage war nun: Okay, wo kriege ich 600 Tonnen Chlor her? Und es hat sich herausgestellt, dass Chlor in vielen Bleichmitteln vorhanden ist – man hat also mehr oder weniger einfach gesprochen 600 Tonnen Bleichmittel zwei Kilometer unter Tage in einer Goldmine in Amerika aufgebaut, um eben ein Argon-Atom pro Tag zu produzieren und diese dann, nach zwei Wochen, zu finden und zu suchen.“

Dabei machten sich Davis und seine Kollegen zunutze, dass die erzeugten Argon-Atome mit einer Halbwertszeit von 35 Tagen unter Aussendung von Strahlung wieder zurück in Chlor-37 zerfallen. Die Suche nach den Argon-Atomen wurde damit zur Suche nach den Signalen ihres Zerfalls:

„Der eigentliche Prozess ist: Das Chlor-37 fängt ein Neutrino, emittiert ein Elektron und produziert dieses Argon-37-Atom. Das Elektron wird schlicht und ergreifend ignoriert. Das Argon lebt einen Monat etwa und zerfällt dann zurück in das Chlor – und diesen Zerfall, den sucht man dann. Das heißt, man lässt den Tank einen Monat stehen, dann einen Tag spülen mehr oder weniger, dann hat man vielleicht 15–20 Argon-Atome, die werden dann in ein Zählrohr gefüllt und dann wartet man und zählt einfach die Argon-Zerfälle und sagt dann: Ich habe jetzt zehn Argon-Zerfälle, also muss ich irgendwann im letzten Monat zehn Argon-Atome produziert haben.“

Nach der erfolgreichen Detektion von Argon-Atomen veröffentlichten Ray Davis und seine Kollegen die ersten Ergebnisse ihres Homestake-Experiments im Jahr 1968. Ray Davis wies darauf hin, dass zu wenige Neutrinos von der Sonne gemessen worden waren – was entweder die gängigen Vorstellungen vom Aufbau der Sonne in Frage stellen oder auf eine noch unbekannte Eigenschaft der Neutrinos hindeuten konnte.

Ein Schwarz-Weiß-Foto zeigt eine unterirdische Höhle, in der einer großer metallischer Tank steht. Über dem Tank führen metallene Laufwege entlang, auf einem davon steht ein Mann in Bergarbeiter-Schutzkleidung.

Das Homestake-Experiment

„Das haben viele Leute natürlich erst mal belächelt, wenn man so sagen darf, so nach dem Motto: Du hast da 10 Atome in 1030 anderen – Du hast halt irgendwo ein paar verloren. Das wird schon irgendwo verloren gegangen sein, die paar Atome. Aber er hat insistiert, und die Messungen haben sich eigentlich auch nie großartig verändert. Die waren stabil über 30 Jahre, und die Leute wurden immer unruhiger, ob da nicht doch vielleicht etwas Richtiges dran ist – und in der Tat war es dann ja auch so.“

Die finale Veröffentlichung der Daten des Homestake-Experiments erschien im Jahr 1998 und berichtete von etwa einhundert solaren Neutrinos, die über die gesamte Laufzeit des Experiments nachgewiesen wurden. Für den Nachweis von Neutrinos aus dem All erhielt Ray Davis zusammen mit Masatoshi Koshiba vom Kamiokande-Neutrinoexperiment in Japan einen Teil des Physik-Nobelpreises im Jahr 2002.

Die von Ray Davis aufgedeckte Diskrepanz zwischen erwarteten und gemessenen Neutrinos von der Sonne wurde als das „Solare Neutrinoproblem“ bekannt und beschäftigte die Astrophysik über Jahrzehnte. Ein wichtiger Baustein, um dieses Rätsel zu lösen, war die Erkenntnis, dass es mehrere Arten von Neutrinos gibt. Der Schlüssel dafür waren Experimente, in denen es gelungen war, mithilfe von Teilchenbeschleunigern einen intensiven Strahl von Neutrinos aus Myonen entstehen zu lassen, einer Art schweren Variante des Elektrons.

„Und die Frage war nun: Sind diese Neutrinos, die ich in diesem Strahl produziere die gleichen wie die Neutrinos, die im Beta-Zerfall auftreten? Dem war nicht so. Sie verhalten sich anders, oder es sind andere Neutrinos.“

Während die von Pauli vorgeschlagenen Neutrinos aus dem Beta-Zerfall als Elektron-Neutrinos bezeichnet wurden, erhielten die neu entdeckten Teilchen die Bezeichnung Myon-Neutrino. Für diese Ergebnisse aus dem Jahr 1962 wurde der Physik-Nobelpreis schließlich 1988 verliehen. Nach der späteren Entdeckung des dritten mit Elektron und Myon verwandten Teilchen namens Tau und dem dazugehörigen Tau-Neutrino war die Familie der geladenen Elektron-ähnlichen Teilchen und ihrer verwandten Neutrinos, wie wir sie heute kennen, komplett.

Neutrinooszillationen: Hinweise und Nachweise

In mehreren theoretischen Arbeiten hatten Physiker schon ab den späten 1950er-Jahren die quantenmechanischen Grundlagen dafür beschrieben, wie verwandte Teilchen sich ineinander umwandeln könnten. Diese Neutrinooszillationen erwiesen sich unter anderem als geeignet, ein Problem zu lösen, das im Super-Kamiokande-Experiment in Japan aufgedeckt worden war. Die Weiterentwicklung des älteren Kamiokande-Experiments war in der Lage, die Richtung und den Typ von Neutrinos zu bestimmen, die durch Reaktionen mit kosmischen Teilchen in der oberen Erdatmosphäre entstehen. Die Forscher hatten erwartet, aus allen Richtungen das gleiche Verhältnis von Elektron- und Myon-Neutrinos zu beobachten.

„Und da kam eben relativ klar heraus, dass die von oben in der Tat alle mit der Erwartung der Simulationen übereingestimmt haben – bis zum Horizont. Wenn man sich also vom Zenitwinkel, von 0 bis 90 Grad bewegt hat, war eigentlich alles schön. Aber sobald man weiterging und damit sozusagen die Flugstrecke des Neutrinos auf die andere Seite der Erde verlagert hat – weil Neutrinos alles durchdringen, auch die Erde ist kein Problem, aber sie haben jetzt anstatt 20 Kilometer zu fliegen jetzt 12.000 Kilometer. Und da kam dann plötzlich immer noch die Anzahl der Elektron-Neutrinos, die man erwartet hat, aber die Myon-Neutrino-Zahl war deutlich reduziert.“

Dieses ‚Verschwinden‘ der Myon-Neutrinos abhängig von der Länge ihrer Flugstrecke ließ sich dadurch erklären, dass die Myon-Neutrinos sich zu einem bedeutenden Anteil in Tau-Neutrinos verwandelt hatten.

Eine große Kugel hängt in einer unterirdischen Höhle. Sie ist rundherum gleichmäßig mit Anschlüssen und Kabeln bedeckt.

Das SNO-Experiment

Eine zweiter erfolgreicher Nachweis der Neutrino-Oszillationen gelang einem Experiment in Kanada, an dem auch Kai Zuber beteiligt war, nämlich dem Sudbury Neutrino Observatory, kurz SNO. Entscheidend für den Aufbau des Experiments war eine große Leihgabe Schweren Wassers durch den kanadischen Staat. Es wird in Kanada vor allem für die dort entwickelten Natururan-Kernreaktoren genutzt. Dem SNO-Experiment wurden 1.000 Tonnen davon bereitgestellt, etwa doppelt so viel wie in einem typischen kanadischen Kernkraftwerk.

Das SNO-Experiment war damit in der Lage, den Fluss von Elektron-Neutrinos aus der Sonne direkt mit dem kombinierten Fluss aller drei Neutrinosorten – Elektron-, Myon- und Tau-Neutrino – zu vergleichen. SNO bestätigte zunächst das Solare Neutrinoproblem: Es kamen zu wenige Elektron-Neutrinos von der Sonne.

Doch gleichzeitig wurde festgestellt, dass die Gesamtzahl aller Neutrino-Reaktionen genau dem erwarteten Fluss von der Sonne entsprach. Auch diese Beobachtung ließ sich schließlich dadurch erklären, dass sich auf dem Weg von der Sonne zur Erde einige Elektron-Neutrinos in Myon- oder Tau-Neutrinos verwandelt hatten.

„Als die Urväter des Standardmodells Anfang der 60er-Jahre das Standardmodell der Teilchenphysik entwickelt und aufgebaut haben, haben sie Neutrinos einfach als Null gesetzt, weil sie gesagt haben, das ist so klein und so wenig im Vergleich zum Elektron selbst, dann wird das schon null sein. Diese Oszillationen allerdings funktionieren nur, und ausschließlich nur, wenn die Neutrinos eine Masse haben.“

Somit hatten die Resultate von SNO und Super-Kamiokande zugleich die Neutrino-Oszillationen nachgewiesen und die ursprüngliche Annahme des ansonsten enorm erfolgreichen Standardmodells der Teilchenphysik widerlegt, dass Neutrinos masselos seien. Für diese Erkenntnis wurde jeweils ein Wissenschaftler beider Experimente in diesem Jahr mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet.

Viele weitere Fragen

Doch die Natur der Neutrinos ist damit alles andere als geklärt. Zwar lässt sich die Tatsache, dass sie eine Masse haben, in das Standardmodell einfügen, doch sie wirft weitaus tiefer gehende Fragen auf:

„Es ist kein Problem, einen Neutrino-Massenausdruck in das Standardmodell einzubauen. Man muss aber erklären, warum das Neutrino um so viele Größenordnungen leichter als alle anderen. Wenn Sie jetzt die ganzen Teilchenspektren mal normieren und sagen, das Elektron ist so etwas wie ein Eichhörnchen, dann ist das Top-Quark so etwas wie ein Blauwal, und das Neutrino wiegt weniger als eine Ameise. Aber wir verstehen das ganze Muster dieser Massen sowieso nicht.“

Die Forscher wissen, dass die Massen der Neutrinos klein sind – doch welchen genauen Wert sie haben, ist noch nicht bekannt. Dieser Frage soll ab dem kommenden Jahr das KATRIN-Experiment in Karlsruhe für die elektron-Neutrinos nachgehen.

Daneben sind Neutrinos aber auch als Instrument der Astronomie interessant. Neuartige Detektoren könnten einen Echtzeit-Einblick in das Innere der Sonne bieten, das uns ansonsten verschlossen ist. Neutrino-Detektoren könnten zudem wertvolle Daten einer Supernova-Explosion aufzeichnen, die sich jederzeit in unserer Milchstraße ereignen könnte. Aus vergangenen Beobachtungen ist bekannt, dass Neutrinos aus einer Supernova eher entkommen als das sichtbare Licht. Mehrere Neutrino-Detektoren sind deshalb zu einem Supernova-Frühwarnsystem zusammengeschlossen und sollen es ermöglichen, eine Supernova schon im Entstehen beobachten zu können.

Feynman-Diagramm: Jeweils ein down-Quark aus zwei Neutronen emittiert ein W-minus-Boson. Diese zerfallen unter Austausch eines Majorana-Neutrinos in zwei Elektronen.

Schema: Neutrinoloser Doppelbetazerfall

„Und dann natürlich der sogenannte neutrinolose doppelte Betazerfall. Das mache ich jetzt seit 25 Jahren: Ein Atomkern kann zerfallen; ein Neutron kann zerfallen in ein Proton, ein Elektron und ein Antineutrino – das nennt man den Betazerfall. Es kann aber auch sein, dass zwei Neutronen im selben Atomkern sich spontan entscheiden, zusammen zu zerfallen, also zwei Neutronen in zwei Protonen, zwei Elektronen und zwei Antineutrinos: Das ist der doppelte Betazerfall. Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Neutronen im selben Atomkern zufällig exakt gleichzeitig zerfallen, ist beliebig klein. Da reden wir über Messungen von Halbwertszeiten von 1020 Jahren. Das ist nicht mehr ganz so einfach, wie man sich vorstellen kann. Der wirklich spannende Modus ist ohne Neutrinos: Zwei Neutronen gehen in zwei Protonen und zwei Elektronen – und das geht nur, wenn Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen sind.“

Kai Zuber und seine Kollegen wollen gleich in mehreren Experimenten nach diesem neutrinolosen doppelten Betazerfall suchen: darunter SNO+ in Kanada, sowie GERDA und COBRA in Italien. Die Beobachtung dieses seltenen Zerfalls, und damit die Erkenntnis, dass Neutrinos und Antineutrinos identisch sind, wäre gleich in mehrerlei Hinsicht von enormer Bedeutung:

Zum Einen hängt die Halbwertszeit des Zerfalls mit der Masse der Neutrinos zusammen und könnte weitere Hinweise liefern, wie groß diese genau ist. Zum anderen müsste, wenn der Zerfall tatsächlich beobachtet wird, eine weitere Grundannahme des Standardmodells revidiert werden: nämlich, dass eine quantenmechanische Größe namens Leptonenzahl in allen Reaktionen erhalten bleiben muss. Darüber hinaus könnte die Identität von Neutrinos und Antineutrinos dabei helfen, die Frage nach der fehlenden Antimaterie im Universum zu beantworten. Warum das beobachtbare Universum voll von Materie ist, aber kaum Antimaterie enthält, ist eine der drängenden Fragen der modernen Astrophysik und Kosmologie.

In der Neutrinophysik, die schon vier Nobelpreise in den letzten 30 Jahren hervorgebracht hat, wird es also mit Sicherheit spannend bleiben.

Name

Betrieb

Untersuchte Neutrinos

Supernova-Warnsystem SNEWS

Standort

Deutsche Beteiligung

Homestake

1968–1994

Solare Elektron-Neutrinos

USA

Kamiokande

1987–1996

Solare Elektron-Neutrinos, atmosphärische Neutrinos

Japan

IMB

1982–1991

Suche nach seltenen Kernzerfällen, Neutrinos aus Supernovae

USA

LVD

1988–

Myon-Neutrinos aus Teilchenbeschleuniger, Neutrinos aus Supernovae

Ja

Italien

GALLEX/GNO

1990–2003

Solare Elektron-Neutrinos

Italien

Ja

SAGE

1990–

Solare Elektron-Neutrinos

Russland

Super-Kamiokande

1996–

Solare Elektron-Neutrinos, atmosphärische Neutrinos

Ja

Japan

K2K

1999–2004

Myon-Neutrinos aus Teilchenbeschleuniger

Japan

SNO

1999–2006

Solare Elektron-Neutrinos

Kanada

Ja

KamLAND

2002–

Elektron-Neutrinos aus Kernreaktor

Ja

Japan

MiniBooNE

2002–

Neutrinos aus Teilchenbeschleuniger

USA

MINOS

2005–2012

Myon-Neutrinos aus Teilchenbeschleuniger

USA

OPERA

2006–2012

Myon-Neutrinos aus Teilchenbeschleuniger

Schweiz/Italien

Ja

BOREXINO

2007–

Solare Elektron-Neutrinos

Ja

Italien

Ja

COBRA

2007–

Suche nach seltenen Kernzerfällen

Italien

Ja

ANTARES

2008–

Neutrino-Astronomie

Mittelmeer (vor Frankreich)

Ja

GERDA

2010–

Suche nach seltenen Kernzerfällen

Italien

Ja

Double-Chooz

2010–

Elektron-Neutrinos aus Kernreaktor

Frankreich

Ja

T2K

2010–

Myon-Neutrinos aus Teilchenbeschleuniger

Japan

Ja

IceCube

2010–

Solare Neutrinos, Neutrino-Astronomie, Neutrinos aus Supernovae

Ja

Südpol

Ja

Daya Bay

2011–

Neutrinos aus Kernreaktor

Ja

China

Ja

RENO

2011–

Neutrinos aus Kernreaktor

Südkorea

KamLAND-Zen

2012–

Suche nach seltenen Kernzerfällen

Japan

MINOS+

2013–

Neutrinos aus Teilchenbeschleuniger

USA

HALO

2014–

Neutrinos aus Supernovae

Ja

Kanada

Ja

SNO+

ab 2016

Suche nach seltenen Kernzerfällen

Ja

Kanada

Ja

KATRIN

ab 2016

Masse des Neutrinos

Deutschland

Ja

ECHO

geplant

Masse des Neutrinos

Deutschland

Ja

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/bausteine/neutrinos/entdeckung-und-erforschung/