GERDA: Verändert das Neutrino das Standardmodell?

Peter Grabmayr

Doppelter Betazerfall

GERDA geht der Frage nach, ob Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen sind. Die Beantwortung stellt höchste Anforderungen an das Experiment, mit dem sich Forscher 1400 Meter unter die Erde zurückgezogen haben. Wenn die Natur der Neutrinos dem Standardmodell der Teilchenphysik widerspricht, kann am Ende auch ein Wert für die Masse der Teilchen herausspringen.

Menschen mit Helmen in einem Raum mit spiegelnden Wänden und spiegelndem Boden.

Forscher im GERDA-Detektor

Uns Experimentatoren haben es die flüchtigen Neutrinos noch nie leicht gemacht: Da sie extrem selten mit Materie in Wechselwirkung treten und sich so hervorragend tarnen, sind sie erst 26 Jahre nach ihrer theoretischen Vorhersage in die experimentellen Fänge geraten. Und jahrzehntelang haben sich weit weniger Teilchen als vermutet zu erkennen gegeben, weil sich die drei verschiedenen Typen der Neutrinos ineinander umwandeln und so dem Nachweis entgingen. Infolgedessen können die Teilchen nicht masselos sein, wie Physiker seit den 1960er Jahren im sogenannten Standardmodell der Teilchenphysik angenommen hatten.

Doch trotz seiner geringen Wechselwirkung ist das Neutrino ein sehr bedeutendes Teilchen. Denn nach den Photonen (Lichtteilchen) kommt es im Universum am häufigsten vor; auch spielt es eine wichtige Rolle bei Supernovaexplosionen und bei der Entwicklung des Universums.

Derzeit sind weltweit zahlreiche Arbeitsgruppen bemüht, den Neutrinos ein weiteres Rätsel zu entlocken: Sind sie ihre eigenen Antiteilchen? Diese Frage hat wichtige Auswirkungen auf die theoretische Beschreibung der Teilchen. Wären Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen, käme das Neutrino ein zweites Mal mit dem Standardmodell der Teilchenphysik in Konflikt. Das hat bisher noch kein Teilchen geschafft.

Die Frage ist schon über siebzig Jahre alt und wurde bereits gestellt, als die Existenz der Teilchen noch gar nicht experimentell bestätigt worden war. Damals entwickelte der Italiener Ettore Majorana eine Alternative zur Theorie des Briten Paul Dirac, in der dieser die Existenz von Antiteilchen vorhersagte. Nach Dirac sind Neutrinos und Antineutrinos zwei verschiedene Dinge, nach Majorana ein und dasselbe. Was nun gilt, lässt sich nur mit einer Reaktion beantworten, die „neutrinoloser doppelter Betazerfall“ genannt wird.

Der neutrinolose doppelte Betazerfall

Beim Betazerfall entsteht aus einem Neutron ein Proton – zusammen mit einem Elektron und einem Neutrino. Bei zwei gleichzeitigen Zerfällen können sich die Neutrinos gegenseitig auslöschen, wenn das Neutrino seinem Antiteilchen entspricht. Aus dem Atomkern entkommen dann nur die beiden Elektronen.

Doppelter Betazerfall

Dabei fing die Geschichte der Neutrinos vor rund achtzig Jahren mit dem einfachen Betazerfall überhaupt erst an. Dieser ist ein radioaktiver Prozess in Atomkernen, bei dem aus einem Neutron ein Proton wird und ein Elektron emittiert wird. Als der Physiker Wolfgang Pauli diesen Vorgang im Jahr 1930 zu verstehen versuchte, gelang ihm dies nur, als er die zusätzliche Teilnahme eines neuen Teilchens forderte; eines leichten (oder gar masselosen) neutralen Teilchens, das später „Neutrino“ getauft wurde.

Beim doppelten Betazerfall wandeln sich nun gleichzeitig zwei Neutronen in zwei Protonen um. Dabei entstehen neben den beiden Elektronen in der Regel auch zwei Antineutrinos. Wenn das Neutrino aber seinem Antiteilchen entspräche, könnten sich die beiden Teilchen im Innern des Kerns gegenseitig aufheben ([+1] + [-1] = 0). Hätte man also einen solchen neutrinolosen doppelten Betazerfall aufgespürt, wäre klar, dass Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen sind.

Die Reaktion verrät sich dadurch, dass die beiden entstehenden Elektronen die gesamte Energie tragen, die bei der Reaktion frei wird, weil sie diese nicht mit den Neutrinos teilen müssen (\(E=2039\) Kilo-Elektronenvolt (keV) für Germanium-76). Für einen Nachweis muss man also nach entsprechenden Paaren von Elektronen Ausschau halten und ihre Energien präzise vermessen.

Für Experimente zum neutrinolosen doppelten Betazerfall eignen sich solche Atomkerne am besten, bei denen der einfache Betazerfall aus Energiegründen nicht möglich ist. Dies ist zum Beispiel bei Germanium-76, Molybdän-100, Tellur-130 und Neodym-150 der Fall. Die Reaktion tritt jedoch äußerst selten auf. Die Halbwertszeiten liegen bei \(10^{25}\) Jahren (eine 1 mit 25 Nullen) und mehr. Bei einem zwei Kilogramm schweren Kristall aus Germanium-76 entspricht das einem einzigen Zerfall pro Jahr.

In einem Experiment fliegen jedoch in jeder Sekunde auch Tausende von Myonen aus dem Kosmos durch den Kristall und die benachbarten Halterungen. Deren Signale müssen aufwendig herausgefiltert werden. Zudem trägt die natürlich vorkommende Radioaktivität der Umgebung, insbesondere Radon, zu Störungen bei, sodass die Experimente in Laboren stattfinden, die tief unter der Erde geschützt vor kosmischer Strahlung liegen und die nur in reinster Umgebung betrieben werden können.

Verschiedene Ansätze

Das Gran-Sasso-Labor befindet sich in einem großen verzweigten Tunnelsystem. Insgesamt sind hier elf Experiment aufgebaut (zum Beispiel Borexino, Opera, Luna und Crest). In einer der vielen Hallen befindet sich das GERDA-Experiment. In zehn Kilometer Entfernung befindet sich die Stadt L'Aquina.

Das Untergrundlabor Gran Sasso

Ein Wettstreit zwischen verschiedenen Gruppen ist nun entbrannt, nach welcher Methode am besten die Störsignale reduziert werden können und ein Ergebnis mit größter Signifikanz herauspräpariert werden kann: NEMO hat Molybdän-100-Folien gewählt und ihren Detektor in Frankreich aufgebaut, CUORE in Italien versucht sich an Tellur-130 bei tiefsten Temperaturen und SNO+ in Kanada verwendet Neodym-150 in einem großen Szintillator-Tank. MAJORANA in den USA und unsere Gruppe GERDA in Italien setzen auf die bekannte und gut entwickelte Germanium-Technologie.

MAJORANA und GERDA arbeiten gemeinsam an der Computersimulation ihrer Experimente und tauschen regelmäßig Erfahrungen untereinander aus, obwohl sie mit unterschiedlichen Konzepten die Störungen aus der kosmischen Strahlung herausfiltern. MAJORANA wird in einer Mine in den USA die Detektoren mit Blei und Kupfer abschirmen. Das Konzept der Abschirmung von GERDA beruht auf Verwendung von Wasser und flüssigem Argon, damit die Detektoren von möglichst reinem Material mit geringer Massezahl (= Anzahl der Protonen und Neutronen im Kern der Atome) umgeben sind.

GERDA

In einem Aufbau, der rund fünf Menschengrößen hoch ist, befindet sich in einem großen Wassertank, ein Tank für flüssiges Argon, in dem über einen Aufzug Germaniumproben eingelassen sind. In Containern links neben dem Aufbau befinden sich in drei Stockwerken von unten nach oben: Wasseraufbereitung und Radon-Monitor, der Kontrollraum, Kühltechnik und Elektronik. Oberhalb des Aufbaus befindet sich ein Reinraum mit einer Schleuse.

Aufbau von GERDA

Die Abkürzung GERDA steht für GERmanium Detector Array (Germaniumdetektorenanordnung). Das Experiment befindet sich in den italienischen Laboratori Nazionali del Gran Sasso (LNGS), 1400 Meter tief unter den Abruzzen. Im GERDA-Experiment arbeiten etwa neunzig Personen aus 14 Instituten aus sechs europäischen Ländern.

Bei GERDA bauen wir nun aus einer Germanium-76-Probe die Detektoren zur Messung der Elektronenenergie, sodass Probe und Detektor identisch sind. Damit kann die Energie der beiden emittierten Elektronen bei Germanium-76 elegant und sehr präzise gemessen werden. Normalerweise sind Germaniumdetektoren einzeln in Kannen eingepackt, denn der Halbleiter Germanium muss durch flüssiges Gas stark abgekühlt werden, um die angestrebte exzellente Energieauflösung zu erreichen. Bei GERDA jedoch werden mehrere „nackte“ Germaniumdetektoren in einen Tank von flüssigem Argon bei einer Temperatur von minus 196 Grad Celsius hängen; dadurch entfällt viel störendes Material in der Nähe der empfindlichen Detektoren. Der Argontank ist von hochreinem Wasser umgeben, welches zum Nachweis von Tscherenkowlicht genutzt wird, das von den wenigen Myonen der restlichen Höhenstrahlung ausgesandt wird. Eine spezielle Folie an der Wand macht das blaue Tscherenkowlicht besser für die im Wasser montierten Lichtdetektoren sichtbar.

Abbildung der GERDA-Germaniumdetektoren. Viele metallische Zylinder in einer Halterung.

Germaniumdetektoren von GERDA

Um Störeinflüsse so gering wie möglich zu halten, müssen vor dem Einbau alle Materialien – auch die Stahlplatten, aus denen der Wassertank aufgebaut ist – auf mögliche radioaktive Beiträge untersucht und ausgewählt werden. Auch bei der Lieferung der 37 Kilogramm 86-prozentig angereicherten Germanium-76 mussten besondere Maßnahmen getroffen werden. Der Halbleiter wurde aus dem Herstellungsort in Sibirien in einem tonnenschweren Stahlsafe auf einem Tieflader nach Deutschland gefahren, um das Germanium nicht der kosmischen Strahlung während eines Fluges auszusetzen. So lässt sich vermeiden, dass neue Isotope in der Probe erzeugt werden. Mit der vorliegenden Menge Germanium lassen sich Halbwertszeiten von einigen \(10^{26}\) Jahren beobachten.

Der innere Argontank ist seit Dezember 2009 und der äußere Wassertank seit April 2010 gefüllt. Derzeit laufen die letzten Tests, im Juni 2010 wurden die ersten Signale von drei Detektoren im Argontank aufgezeichnet, die ersten Messungen mit den angereicherten Detektoren begannen im Sommer 2010. Der erste Abschnitt der Datennahme ist für ein Jahr Messzeit ausgelegt; danach werden im zweiten Abschnitt weitere zwanzig Kilogramm an neuen Detektoren hinzugefügt werden. Die erste Phase strebt eine Exposition von 15 Kilogrammjahren an, die zweite hundert Kilogrammjahre.

Falls wir den neutrinolosen doppelten Betazerfall nachweisen, erwarten wir, die effektive Masse der Neutrinos bis etwa einhundert Milli-Elektronenvolt bestimmen zu können, wobei der genaue Wert noch davon abhängt, welches theoretische Modell verwendet wird. Diesen Nachweis hat noch kein Experiment geschafft.

Im Moment hat GERDA einen guten Vorsprung vor MAJORANA, den es auch zu nutzen gilt. Deshalb richten sich unsere Anstrengungen weiterhin darauf, die neuen Detektoren zu optimieren und den Untergrund zu reduzieren.

 

Weiterführende Literatur

S. Schönert et al.: The GERmanium Detector Array (GERDA) for the search of neutrinoless decays of 76 Ge at LNGS, Nuclear Physics B145 (2005) 242

A. Smolnikov und P. Grabmayr: Conversion of experimental half-life to effective electron neutrino mass in 0vbb decay, Physical Review C 81 (2010) 028502

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/bausteine/neutrinos/experimente/gerda/