KATRIN – eine Waage für Neutrinos

Guido Drexlin, Christian Weinheimer

Das KATRIN-Experiment

Seit einigen Jahren ist bekannt, dass Neutrinos eine Ruhemasse besitzen. Sie gelten deshalb als Teilchen der Heißen Dunklen Materie. Die meisten Neutrinoexperimente können lediglich die Massendifferenzen von zwei Neutrinoarten messen. Die einzige Möglichkeit der direkten Massenbestimmung bietet der Betazerfall. Das Karlsruhe Tritium Neutrino Experiment KATRIN wird erstmals in der Lage sein, die Masse des Elektron-Neutrinos unterhalb von einem Elektronenvolt zu messen. Das internationale Experiment, das derzeit am Forschungszentrum Karlsruhe von mehr als hundert Wissenschaftlern und Ingenieuren aus fünf Staaten aufgebaut wird, nutzt Tritium als Medium für den Betazerfall.

Ein Mensch im Schutzanzug steht in einem metallischen Raum. An den Rändern des Raums verlaufen zahlreiche feine DrähteDas Drahtelektrodensystem von KATRIN

Fotostrecke: KATRIN von innen – der Bau des Drahtelektrodensystems

Die beim Urknall erzeugten Neutrinos sind die häufigsten massebehafteten Teilchen im Universum: Jeder Kubikzentimeter im Kosmos enthält heute 336 Neutrinos. Als Teilchen der Heißen Dunklen Materie haben sie die Entstehung und Evolution großräumiger Strukturen im Universum mit beeinflusst. Die einzige Möglichkeit, die bislang ungeklärte Rolle von Neutrinos als Heiße Dunkle Materie im Universum in einer modellunabhängigen Weise zu bestimmen, ist die genaue Messung der Energieverteilung von Elektronen aus Betazerfällen. Hier manifestiert sich die Größe der Neutrinomasse in einer charakteristischen Modifikation des Spektrums nahe am Endpunkt.

Paulis „Geisterteilchen“ lebt wieder auf

Das Energiespektrum von Elektronen aus dem Tritium-Betazerfall zeigt nahe am kinematischen Endpunkt eine charakteristische Modifikation in Abhängigkeit von der Neutrinomasse.

Die Energiespektren

KATRIN nutzt den Effekt, aufgrund dessen der Physiker Wolfgang Pauli das Neutrino 1930 voraussagte. Beim Betazerfall wandelt sich ein Neutron in ein Proton, ein Elektron und ein (elektronisches Anti-) Neutrino um. Das entstehende Elektron hat keine feste Energie, sondern schwankt von Null bis zu einer Maximalenergie, die praktisch der gesamten beim Zerfall frei werdenden Energie entspricht. Den verbleibenden Anteil übernimmt das Neutrino. Dessen Energie setzt sich wieder aus zwei Bestandteilen zusammen: seiner Ruhemasse und seiner Bewegungsenergie. Da sich die Neutrinos nur sehr schwer nachweisen lassen, misst man die Elektronen. Aus der genauen Beobachtung ihres Energiespektrums in der Nähe der Maximalenergie kann auf die Neutrinomasse geschlossen werden. Da das Neutrino eine Masse hat und damit, gemäß Einsteins berühmter Formel \( E=mc^2\), eine Mindestenergie mit sich trägt, wird das Energiespektrum in der Nähe der Maximalenergie des Betazerfalls modifiziert sein.

Am besten geeignet zur Suche nach Effekten der Neutrinomasse ist molekulares Tritium, das eine sehr kleine Übergangsenergie von nur 18,6 Kilo-Elektronenvolt (keV) aufweist und gleichzeitig aufgrund seiner kurzen Halbwertszeit von 12,3 Jahren über eine sehr hohe Zerfallsaktivität verfügt. Aus diesem Grund wurden in den letzten 25 Jahren weltweit zahlreiche Tritiumexperimente durchgeführt, zuletzt in Mainz. Sie führen derzeit zu einer Obergrenze für die Ruhemasse des Elektron-Neutrinos von 2,3 eV. Um in den kosmologisch interessanten Bereich unterhalb von 1 eV vorzustoßen, ist ein neues Experiment erforderlich, das über eine hundertmal intensivere Tritiumquelle und eine fünfmal bessere Energieauflösung als die bisherigen Experimente verfügen muss.

KATRIN ist als ultimatives Tritium-Zerfallsexperiment ausgelegt, das eine Neutrinomasse bis herunter zu 0,2 eV feststellen soll. Bei dieser Methode werden die Elektronen aus dem Tritium-Betazerfall durch starke Magnetfelder von drei bis sechs Tesla entlang der magnetischen Feldlinien von der Quelle bis zum Detektor geführt, ohne dass sie ihre Energie verändern. Ihre Energie bestimmt ein Spektrometer, das gegenüber der Quelle auf einem negativen Potential liegt. Mit dieser Methode lässt sich das Spektrum durch Variation der Gegenspannung messen.

Aufbau von KATRIN

Schema des KATRIN-Experiments. Man sieht eine lange Kette verschiedener Komponenten des Experiments, die am Detektor endet.

Das KATRIN-Experiment

Das insgesamt 75 Meter lange Experiment gliedert sich in vier große funktionale Einheiten: eine hochintensive molekulare Tritiumquelle, die 1011 Betazerfälle pro Sekunde liefert, eine Tritium-Pumpstrecke, in der die Moleküle aus der Strahlführung eliminiert werden, ein System aus zwei elektrostatischen Spektrometern zur Energieanalyse sowie einem Detektor zum Zählen der transmittierten Elektronen.

Die Tritiumquelle besteht aus einem zehn Meter langen Stahlrohr, in das mittig gasförmiges, molekulares Tritium eingespeist wird. Wesentliche technologische Herausforderungen ergeben sich aus der erforderlichen Temperaturstabilität der Quelle: Bei einer mittleren Temperatur von 27 Kelvin dürfen Abweichungen von maximal dreißig Millikelvin auftreten. Darüber hinaus ist eine Isotopenreinheit von etwa 95 Prozent gefordert. Die europaweit einzige Institution, welche die hohen Anforderungen an Tritiuminventar und Reinheit erfüllt, ist das Tritiumlabor Karlsruhe, an dem KATRIN aufgebaut wird.

Die aus der Quelle diffundierenden Tritiummoleküle werden zunächst mit Turbomolekularpumpen abgesaugt und in den geschlossenen Kreislauf zurückgeführt. Eine anschließende kryogene Kaltfallenstrecke mit einer Temperatur von fünf Kelvin garantiert, dass der nachfolgende Spektrometerbereich von KATRIN tritiumfrei bleibt.

Das Vorspektrometer: Ein metallischer Zylinder mit zahlreichen montierten Teilen und Elektronik.

Das elektrostatische Vorspektrometer

Die Energieanalyse der Elektronen aus dem Betazerfall erfolgt bei KATRIN in zwei Schritten: Zunächst werden in einem kleineren Vorspektrometer alle Elektronen mit Energien unterhalb von 18,4 keV ausselektiert, da sie keine Information über die Neutrinomasse tragen. Das Vorspektrometer ist seit 2004 in Betrieb und hat die neuartigen Ansätze beim Messprinzip von KATRIN erfolgreich verifiziert.

In einem großen hochauflösenden Hauptspektrometer mit einem Durchmesser von 10 Metern und einer Länge von 24 Metern wird dann die Energie der Elektronen nahe am Endpunkt präzise bestimmt. Technisch anspruchsvoll ist die Forderung, dass beim Betrieb der Spektrometer ein Ultrahochvakuum von besser als 10-11 Millibar aufrecht erhalten bleibt und die geforderte Stabilität der Gegenspannung von 18,6 Kilovolt um weniger als ein Millionstel schwankt. Die durch das Spektrometer transmittierten Elektronen werden schließlich in einem segmentierten, untergrundarmen Silizium-Zähler nachgewiesen.

Foto von einem Raum, in dem ein Versuchsaufbau mit zahlreichen Behältern steht, die mit Schläuchen und Kabeln verbunden sind.

Das Testexperiment TILO

Ausblick

Wenn KATRIN voraussichtlich 2012 in Betrieb gehen wird, wird das Experiment mehrere Jahre das Spektrum von Tritium am Endpunkt abscannen, um die Designsensitivität von 0,2 eV zu erreichen. Im Falle einer sichtbaren spektralen Modifikation am Endpunkt kann KATRIN die Größe der Neutrinomasse mit hoher Präzision feststellen und so den Anteil der Heißen Dunklen Materie im Universum in einer modellunabhängigen Methode bestimmen. Von großem Interesse für die Astroteilchenphysik wird der Vergleich dieser Resultate mit den Ergebnissen von GERDA und den kosmologischen Studien sein. Hier kann die Zukunft große Überraschungen und interessante Erkenntnisse über die Rolle von Neutrinos im Universum bereithalten.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/bausteine/neutrinos/experimente/katrin/