SNO+: Neutrinos aus den Tiefen von Erde, Sonne und All

Kai Zuber

Simulation von Ereignissen in SNO+

Mit dem Neutrinoexperiment SNO+ in einer Nickelmine in Kanada lassen sich die Eigenschaften von Neutrinos auf unterschiedliche Weisen studieren. So können die Wissenschaftler eine ganze Reihe wichtiger Fragen der Teilchenphysik, Astrophysik und Geophysik unter die Lupe nehmen.

Dies ist der zweite Teil unseres Artikels zu SNO+. Zurück zum ersten Teil.

Teilchen gleich Antiteilchen?

Eine der wichtigsten ungeklärten Fragen der Neutrinophysik ist: Sind Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen oder sind Neutrinos und Antineutrinos verschiedene Teilchen? Die exotisch anmutende Frage hat gewichtige Auswirkungen für die gängige Theorie der Elementarteilchen, das Standardmodell der Teilchenphysik. Dieses postuliert nämlich, dass Neutrinos und Antineutrinos verschiedene Teilchen sind – entsprechend den Überlegungen des britischen Physikers Paul Dirac, der die Existenz von Antiteilchen erstmals vorhersagte. Noch bevor Neutrinos experimentell entdeckt wurden, entwickelte der Italiener Ettore Majorana eine alternative Theorie, nach der Teilchen und Antiteilchen ein und dasselbe sind, was allerdings nur für ungeladene Teilchen möglich ist.

Diese Majorana-Theorie ist in den Augen vieler Forscher besonders attraktiv, da sie auch die sehr kleinen Neutrinomassen erklärt – also jenen Punkt, an dem die Neutrinos nachgewiesenermaßen bereits den Rahmen des Standardmodells sprengen, denn dieses geht von masselosen Neutrinos aus. Falls Neutrinos wirklich Majorana-Teilchen sind, könnte dies zudem zum Verständnis beitragen, warum es mehr Materie als Antimaterie im Universum gibt.

Beim Betazerfall entsteht aus einem Neutron ein Proton – zusammen mit einem Elektron und einem Neutrino. Bei zwei gleichzeitigen Zerfällen können sich die Neutrinos gegenseitig auslöschen, wenn das Neutrino seinem Antiteilchen entspricht. Aus dem Atomkern entkommen dann nur die beiden Elektronen.

Doppelter Betazerfall

Einen vielversprechenden experimentellen Zugang zu dieser Frage bietet der neutrinolose doppelte Betazerfall (siehe auch Artikel GERDA: Verändert das Neutrino das Standardmodell?). Beim einfachen Betazerfall – einem Prozess, der in vielen radioaktiven Stoffen stattfindet – verwandelt sich ein Neutron in ein Proton und sendet dabei ein Elektron und ein Antineutrino aus. Beim Doppelbetazerfall geschieht das Ganze – wie der Name schon sagt – doppelt: Zwei Neutronen in einem Atomkern wandeln sich in zwei Protonen um, dabei entstehen zwei Elektronen und zwei Antineutrinos. Sind Neutrinos und Antineutrinos nun keine Dirac-, sondern Majorana-Teilchen, und entsprechend ein und dasselbe, können sich die beiden Antineutrinos aufheben. Dann verbleiben als Zerfallsprodukte nur Protonen und Elektronen ohne Antineutrinos – ein Prozess, der im Standardmodell der Teilchenphysik nicht vorgesehen ist.

Die experimentelle Beobachtung dieses neutrinolosen doppelten Betazerfalls würde nicht nur beweisen, dass Neutrinos der Theorie von Majorana gehorchen, sondern den Forschern auch ermöglichen, die Neutrinomasse direkt zu messen. Die Häufigkeit, mit der die Zerfälle vorkommen, wäre nämlich abhängig vom Quadrat der Neutrinomasse. Bisherige Experimente konnten dagegen nur Massendifferenzen zwischen verschiedenen Neutrinosorten bestimmen oder mithilfe des Betazerfalls eine Obergrenze für die Neutrinomasse ermitteln.

In einer unterirdischen Kaverne hängt eine riesige, mit unzähligen elektronischen Geräten bestückte Kugel. Darunter stehen zwei Menschen.

Die Photomultiplieranordnung von SNO

Im Vergleich zum Zwei-Neutrino-Doppelbetazerfall tritt der neutrinolose Doppelbetazerfall – wenn es ihn denn gibt – extrem selten auf. Um die kleine Anzahl von Elektronenpaaren, die beim neutrinolosen Zerfall entstehen, aus der Menge an Elektronenpaaren des Zwei-Neutrino-Zerfalls herauszufiltern, müssen die Experimente deshalb eine sehr hohe Energieauflösung besitzen. Und sie müssen sehr groß sein, um die seltenen Zerfälle mit ausreichender statistischen Sicherheit messen zu können.

Hier ist SNO+ im Vorteil: Der neue Detektor wird zwar nicht die höchste Energieauflösung existierender Experimente erreichen, doch kann die Szintillatorflüssigkeit in der Akrylkugel mit einer großen Menge an Neodym-150 (Nd-150) versetzt werden, dessen Atomkerne sich für den neutrinolosen Doppelbetazerfall besonders gut eignen. Mit 56 Kilogramm Nd-150 im Akryltank könnte SNO+ Neutrinomassen bis hinunter zu achtzig Millielektronenvolt (meV) messen, mit isotopenangereichertem Neodym würden die Forscher sogar auf 500 Kilogramm Nd-150 kommen und könnten damit Neutrinomassen bis 30 meV aufspüren. Diese Aussicht ist besonders interessant, denn einigen Modellen zufolge könnte die effektive Masse von Majorana-Neutrinos bei etwa 50 meV liegen.

Sonnenneutrinos

Grafische Darstellung einer Kugel, an deren rechter unterer Seite verschiedenfarbige konzentrische Ringe zu sehen sind.

Simulation von Ereignissen in SNO+

Sonnenneutrinos entstehen im Herzen der Sonne in genau denselben Fusionsreaktionen, die auch die Wärme und das Licht erzeugen, welche das Leben auf der Erde erst möglich machen. Aufgrund der hohen Dichte der Sonne braucht die elektromagnetische Strahlung allerdings eine Million Jahre, um die 700.000 Kilometer vom Zentrum der Sonne bis an die Oberfläche zurückzulegen. Neutrinos dagegen reagieren so selten mit Materie, dass sie die Sonne quasi sofort mit knapp Lichtgeschwindigkeit verlassen. Diese Fähigkeit der Neutrinos, die Sonne zu durchqueren, als sei sie gar nicht da, ermöglicht es den Physikern, direkt ins Herz der Sonne zu blicken und ihre Fusionsmechanismen zu studieren. Gleichzeitig können sie die Eigenschaften der Teilchen, wie zum Beispiel die Neutrinooszillationen, im Detail untersuchen.

Da SNO+ über 2000 Meter tief unter der Erde liegt, ist der Detektor besonders gut gegen den störenden Einfluss kosmischer Höhenstrahlung abgeschirmt. Dies macht SNO+ zum besten, wenn nicht gar einzigen Experiment weltweit für das Studium der „pep-Neutrinos“, die in der Sonne durch die Fusion von zwei Protonen und einem Elektron entstehen. Zudem könnte SNO+ auch Neutrinos aus dem „CNO-Fusionszyklus“ messen, an dem Kohlenstoff, Stickstoff und Sauerstoff beteiligt sind. Über diesen speziellen solaren Fusionsprozess sind bisher kaum Details bekannt, da er auch theoretisch extrem schwer zu berechnen ist. Mit solchen Messungen könnte SNO+ entscheidend zum Verständnis der Funktionsmechanismen der Sonne und damit der stellaren Astrophysik beitragen.

Antineutrinos aus Kernreaktoren

Drei Männer montieren eine riesige durchsichtige Akrylkugel.

Aufbau der Akrylkugel

In Kernreaktoren entstehen bei den Kernspaltungsreaktionen auch große Mengen an Antineutrinos, die mit SNO+ untersucht werden können. Da die Anzahl der im Reaktor ablaufenden Zerfallsprozesse anhand der thermischen Leistung des Reaktors bestimmt werden kann, lässt sich der Antineutrinofluss, der am Neutrinodetektor ankommen sollte, genau berechnen. Auch die Form des Antineutrinospektrums, die von dem im Reaktor verwendeten Brennmaterial abhängt, ist im Allgemeinen bekannt. Die Ausgangsbedingungen sind damit ausgezeichnet, um mithilfe der Reaktorantineutrinos die Details der Neutrinooszillationen zu studieren.

SNO+ wird vor allem Antineutrinos aus den kanadischen Kernreaktoren Bruce, Pickering und Darlington messen. Zwar wird die Anzahl der Reaktionen im SNO+-Detektor voraussichtlich nicht so hoch sein wie zum Beispiel bei KamLAND in Japan; doch da der Abstand zwischen Detektor und Reaktoren bei SNO+ größer ist als bei KamLAND, können die Forscher in Sudbury das Phänomen der Neutrinooszillationen mit SNO+ aus einem anderen Blickwinkel beleuchten.

Neutrinos aus den Tiefen der Erde

Kernreaktoren sind nicht die einzige für SNO+ interessante Antineutrinoquelle. Auch beim Zerfall radioaktiven Materials wie Uran oder Thorium im Inneren der Erde – insbesondere dem Erdmantel und der Erdkruste – werden Antineutrinos freigesetzt. Diese Geoneutrinos geben Aufschluss darüber, wie viel Wärme im Erdinneren durch Radioaktivität entsteht. Heutzutage geht man davon aus, dass ein Großteil des Wärmeflusses der Erde (zwischen fünfzig und hundert Prozent!) durch radioaktive Zerfälle erzeugt wird. Diese genauer zu studieren, wird uns helfen zu verstehen, wie sich das Erdinnere im Laufe der Zeit abgekühlt hat, und uns ermöglichen, die zukünftige Entwicklung vorherzusagen.

Das KamLAND-Experiment in Japan konnte solche Geoneutrinos zum ersten Mal nachweisen. Doch die Neutrinorate war im Vergleich zu dem von Reaktorneutrinos stammenden Signal so gering, dass die Wissenschaftler diesen geophysikalischen Fragestellungen nicht weiter nachgehen konnten. Jüngst beobachtete auch Borexino in Italien solche Geoneutrinos. Alle drei Experimentierstandorte haben eine geologisch sehr unterschiedliche Umgebung. So weist die kontinentale Erdkruste im kanadischen Sudbury eine deutlich höhere Konzentration an radioaktiven Elementen auf als die ozeanische Erdkruste in Japan. Auch ist die Rate an Reaktorneutrinos bei SNO+ geringer als bei KamLAND. Die Forscher in Kanada erwarten deshalb, mit dem neuen SNO+-Detektor den Fluss von Geoneutrinos präzise messen zu können.

Neutrinos von Supernovae

Eine glänzende durchsichtige Kugel liegt scheinbar mittig auf einer kreisförmigen Anordnung von Tausenden glänzenden Punkten.

Im Inneren der Photomultiplieranordnung

Wenn ein Stern am Ende seiner Brenndauer in einer gewaltigen Supernova explodiert, werden über 99 Prozent der Energie in Form von Neutrinos freigesetzt. Dabei strahlt der Stern in seiner letzten Explosion innerhalb von wenigen Sekunden mehr Neutrinos ins All hinaus als in seiner gesamten vorangegangenen Existenz. Heute geht man davon aus, dass die Neutrinos sowohl beim Explosionsmechanismus der Supernovae als auch bei der damit einhergehenden Erzeugung schwerer Elemente eine entscheidende Rolle spielen.

Hinzu kommt, dass die Neutrinos aus der Sternenexplosion entweichen, bevor das Licht es tut. Detektiert ein Neutrinoexperiment also einen von einer Supernova stammenden „Neutrinoblitz“, können Astronomen an den optischen Teleskopen vorgewarnt werden und ihre Teleskope rechtzeitig auf die besagte Himmelsregion richten. In der Tat gibt es ein solches Supernova-Frühwarnsystem (SNEWS, für Supernova Early Warning System), an dem Neutrinoexperimente auf der ganzen Welt teilnehmen. Wie sein Vorgänger SNO wird auch SNO+ Teil dieses Frühwarnsystems sein.

Als großvolumiges Szintillatorexperiment ist SNO+ ein sehr guter Supernovadetektor. Selbst eine Sternexplosion in einer anderen Galaxie würde in SNO+ ein deutliches Signal hervorrufen. Wie ergiebig das Studium von Supernovaneutrinos sein kann, zeigen die Messungen der Supernova 1987A in der Großen Magellanschen Wolke durch die Neutrinodetektoren Kamiokande II, IMB und Baksan. Anhand der aufgenommenen Daten konnten die Experimente Neutrinooszillationsmodelle testen, Grenzen für die Neutrinomassen bestimmen und die Größe möglicher Extradimensionen im Universum ausloten. Dank der großen Empfindlichkeit von SNO+ auch für Supernovaneutrinos hoffen die Forscher, auch in diesem Bereich wichtige Informationen zur Neutrinophysik, Sternenphysik und Kosmologie beisteuern zu können.

 

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/bausteine/neutrinos/experimente/sno/sno-teil-2/