„Wir waren davon selbst völlig überrascht“

Dirk Eidemüller

Illustration eines Heliumatoms: drei verschiedenfarbige Kugeln in einer transparenten Blase, eingehüllt von leuchtenden Bändern

Christoph Hohmann

Nach dem Urknall sollten Materie und Antimaterie eigentlich zu gleichen Teilen entstanden sein. Doch unser Universum besteht heute nur noch aus Materie – dieses Ungleichgewicht gehört zu den spannendsten Rätseln der Teilchenphysik. Auf der Suche nach möglichen Erklärungen haben Forscher nun eine überraschende Entdeckung für Antiprotonen in supraflüssigem Helium gemacht. Im Interview mit Welt der Physik spricht Masaki Hori vom Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching über dieses bislang nicht erklärbare Phänomen.

Welt der Physik: Wie untersuchen Sie Antimaterie?

Porträt des Wissenschaftlers Masaki Hori

Masaki Hori

Masaki Hori: Es gibt viele verschiedene Methoden, Antiprotonen und andere Teilchen aus Antimaterie zu analysieren. Meine Arbeitsgruppe hat sich darauf spezialisiert, sogenannte exotische Atome zu erzeugen, bei denen ein Elektron eines gewöhnlichen Atoms durch ein Antimaterieteilchen ersetzt wird. In den nun veröffentlichten Experimenten haben wir Antiprotonen in Helium eingefangen. Das ermöglicht es, hochgenaue spektroskopische Untersuchungen an diesen Atomen durchzuführen. Dabei werden die Atome mit Laserlicht bestrahlt und beobachtet, welcher Teil des elektromagnetischen Spektrums absorbiert wird. Indem wir dann diese Spektrallinien analysieren, lassen sich die Eigenschaften der Antimaterie sehr gut überprüfen.

Mit welcher Art von Atomen haben Sie gearbeitet?

Antiprotonen haben die gleichen Eigenschaften wie Protonen, allerdings genau die entgegengesetzte Ladung – sie sind also negativ geladen wie Elektronen. Für unsere Experimente haben wir den Antiprotonen-Strahl am Forschungszentrum CERN genutzt: Die Antiprotonen entstehen bei Kollisionen der hochenergetischen Protonen am dortigen Teilchenbeschleuniger und werden dann mit Hilfe des Antiproton Decelerators heruntergebremst. Die abgebremsten Antiprotonen haben wir dann auf eine Probe aus Helium geleitet. Dort können sie von den Heliumatomen eingefangen werden, indem eines der beiden Elektronen aus der Hülle verdrängt wird und das Antiproton seinen Platz einnimmt. Ein solches Atom besteht dann aus einem Atomkern mit einer Hülle aus einem Elektron und einem Antiproton. Man nennt diese Atome auch antiprotonisches Helium.

Wie stabil sind solche exotischen Atome?

Sie überleben typischerweise nur Mikrosekunden, also millionstel Sekunden. Das ist aber lang genug, um mithilfe von Laserstrahlen die spektroskopischen Untersuchungen zu machen. Der Grund für diese kurze Lebensdauer: Wenn Antiprotonen in die Nähe von Atomkernen gelangen, reagieren sie sofort mit den Protonen im Atomkern und zerstrahlen zu purer Energie. Normalerweise finden spektroskopische Experimente im gasförmigen Zustand statt. Nun haben wir aber festgestellt, dass dies überraschenderweise auch in bestimmten Flüssigkeiten sehr gut funktioniert.

Warum ist das so überraschend?

Spektrallinien – wie etwa die berühmten Fraunhofer-Linien im Sonnenspektrum – untersucht man üblicherweise in Gas. Denn je dichter ein Material ist, desto mehr werden die spektralen Übergänge durch Stöße zwischen den Atomen und durch wechselseitige elektromagnetische Einflüsse gestört. Dadurch verbreitern sich die Spektrallinien massiv und spektrale Untersuchungen werden immer schwieriger. In Flüssigkeiten können sich Spektrallinien um mehr als den Faktor eine Million verbreitern und werden oft praktisch unkenntlich, so dass sie sich von anderen Spektrallinien nicht mehr unterscheiden lassen. Wie wir nun festgestellt haben, gilt das aber nicht für Atome mit Antiprotonen in supraflüssigem Helium.

Große runde Apparatur

Experiment am Forschungszentrum CERN

Welche besonderen Eigenschaften besitzt denn supraflüssiges Helium?

Diese Flüssigkeit entsteht, wenn man flüssiges Helium nochmals stark abkühlt, auf Temperaturen von nur etwa zwei Grad über dem absoluten Temperatur-Nullpunkt. Dann verliert das Helium seine innere Reibung und geht in den sogenannten supraflüssigen Zustand über – ähnlich wie Supraleiter bei sehr tiefen Temperaturen ihren elektrischen Widerstand praktisch vollständig verlieren. Supraflüssiges Helium ist sehr transparent und extrem kalt, was spektroskopische Untersuchungen begünstigt. Allerdings trifft das nicht auf alle Atome zu: Wenn man bestimmte gewöhnliche Atome in supraflüssigem Helium löst, sind deren Spektrallinien trotzdem stark verbreitert, wie auch in gewöhnlichen Flüssigkeiten. Bei antiprotonischem Helium gilt das nach unseren neuen Ergebnissen aber nicht.

Haben Sie eine Erklärung für dieses überraschende Verhalten?

Bislang gibt es meines Wissens keine theoretische Erklärung, wir waren davon selbst völlig überrascht. Das Schöne an Naturwissenschaften ist ja, dass die Natur einem immer wieder etwas völlig Unerwartetes präsentiert. Ein Grund könnte darin liegen, dass antiprotonische Heliumatome ihre Größe während der Experimente kaum ändern. Das allein erklärt allerdings nicht die plötzliche Abnahme der Linienbreite bei der Abkühlung zu supraflüssigem Helium. Wir wollen künftig untersuchen, ob das nur bei antiprotonischem Helium so gut funktioniert, oder ob auch andere exotische Atomsorten genauso scharfe Spektrallinien zeigen.

Gibt es schon mögliche Anwendungen für das neu beobachtete Phänomen?

Da alles noch sehr neu ist, kann ich nur spekulieren. Aber es ist zum Beispiel denkbar, mit einem solchen System nach Antimaterie in der kosmischen Strahlung zu suchen. Denn viele Forschungssatelliten haben zu Kühlungszwecken supraflüssiges Helium an Bord. Wenn Antiprotonen aus der kosmischen Strahlung dort eingefangen werden, könnte man das mit einer passenden Laserquelle und einem Detektor möglicherweise sichtbar machen. Aber wie gut das technisch machbar ist und ob das besser ist als andere Nachweismethoden, müssten sich Experten für Satellitenexperimente überlegen.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/antimaterie/wir-waren-davon-selbst-voellig-ueberrascht/