„Tumorzellen verformen sich kollektiv“

Dirk Eidemüller

Rundes netzartiges Gebilde, auf dem viele runde Flecken zu erkennen sind.

Universität Leipzig/Steffen Grosser

Tumorzellen besitzen etliche Eigenschaften, die sie von gesunden Zellen unterscheiden. Eine davon ist ihre Fähigkeit, sich gewissermaßen zu verflüssigen: Liegen Krebszellen dicht an dicht gedrängt und versperren so den Durchgang für andere Zellen, können sich Krebszellen dennoch durch die eigentlich unpassierbaren Zwischenräume bewegen – indem sie sich kollektiv verformen. Dieses für das Metastasieren entscheidende Verhalten von Krebszellen hat ein Team um Josef Käs von der Universität Leipzig nun erstmals in Proben aus lebendigem Gewebe nachgewiesen. Im Interview erklärt der Wissenschaftler, warum das auch für die Diagnostik ein interessanter Durchbruch sein könnte.

Foto von Josef A. Käs

Josef Käs

Was unterscheidet Tumorgewebe von gesundem Gewebe?

Josef Käs: Das Besondere an Tumoren ist, dass sie sowohl feste als auch flüssige Zellmassen in sich vereinigen. Damit ein Tumor umliegendes Gewebe verdrängen kann, muss er fester sein als dieses. Dazu tragen die festen Teile bei. Doch wenn er nur fest wäre, dann könnte er nicht metastasieren. Daher gibt es in bösartigen Tumoren, die Metastasen bilden, einen hohen Prozentsatz an Gebieten mit beweglichen Tumorzellen – sozusagen „flüssigem“ Tumorgewebe. In diesen Gewebeteilen machen sich die Zellen und Zellkerne länglich, sodass sie sich aneinander vorbeiquetschen können.

Wie haben Sie das herausgefunden?

In unseren Experimenten haben wir Proben aus bösartigen, metastasierenden Tumoren von unterschiedlichen Patienten in einer Kulturschale untersucht. Dazu haben wir die Proben mit einem neuartigen fluoreszierenden Farbstoff – einer sogenannten Spy-DNA – eingefärbt, der sich an die Zellkerne anlagert. Mit einem geeigneten Mikroskop und der entsprechenden Bildverarbeitung konnten wir dann die Bewegung der einzelnen Tumorzellen langfristig verfolgen.

Wie kommen Tumorzellen zu der Fähigkeit, ihre Form zu verändern?

Tumorzellen sind in vielerlei Hinsicht „dedifferenziert“  – also quasi zurückentwickelt in Richtung Stammzelle. Diese entarteten Gewebezellen haben ihre spezifische Programmierung verloren und zeigen deshalb eine hohe mechanische Heterogenität. So gibt es Tumorbereiche mit beweglichen und unbeweglichen Krebszellen. In unseren Versuchen sehen wir, dass sich ein großer Teil der Zellen in einem Tumor in einer Art flüssigem Zustand befindet. Diese Tumorzellen können ihre Form extrem stark verändern und sich gegenseitig aneinander vorbeischieben. Nun gibt es auch in unserem Immunsystem durchaus Zellen, die sich durch dichtes Gewebe quetschen können. Aber diese sind sozusagen Einzelkämpfer, während wir es bei den beweglichen Tumorzellen auch mit Gruppen von Zellen zu tun haben.

Warum bleiben einige Krebszellen fest – wie gesundes Gewebe –, während andere mobil werden?

Die Gründe dafür sind auf zellulärer Ebene noch nicht gut verstanden. Ein Tumor ist ein komplexes Gebilde, dessen Zellen eine Vielfalt von Fähigkeiten besitzen. Vor allem für die Bildung von Metastasen scheint der Übergang von festem zu flüssigem Gewebe – also hochgradig mobilen Tumorzellen – ein entscheidender Faktor zu sein. Physikalisch gesehen ist das eine Art von Phasenübergang. Das ist eine wichtige Erkenntnis für die Tumorphysik. Denn üblicherweise wird die Bewegung von Zellen in Gewebe blockiert, wie bei einem Stau auf der Autobahn. Fachleute sprechen daher auch von „Jamming“. Einige Tumorzellen schaffen es durch ein „Zell-Unjamming“ jedoch, sich kollektiv aneinander vorbeizuschlängeln und sich lokal dem Stau zu entziehen.

Welche Rolle spielt diese Fähigkeit für die Tumorentwicklung?

Auch von der Oberfläche eines festen Tumors wandern stets einige wenige Zellen in den Rest des Körpers ab. Diese wenigen Tumorzellen werden normalerweise vom Immunsystem abgefangen und können deshalb kaum Metastasen bilden. Wenn aber obendrein regelmäßig Gruppen von mehreren Krebszellen aus der Tiefe des Tumors herauswandern, kann dies das Immunsystem überfordern, bis sich schließlich doch Metastasen bilden.

Bieten die Ergebnisse einen Ansatz für neuartige Therapeutika?

Man muss bei solchen Experimenten stets aufpassen, keine falschen Hoffnungen zu wecken. Diese Ergebnisse sind zwar für uns ein wissenschaftlicher Durchbruch, aber von eventuellen Medikamenten sind wir noch weit entfernt. Doch ich denke schon, dass dies zumindest für die klinische Diagnostik eine gute Hilfe sein kann, indem man etwa schneller identifizieren kann, welcher Tumor stärker zur Metastasenbildung neigt.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/leben/tumorzellen-verformen-sich-kollektiv/