„Mögliche Abweichungen vom Standardmodell“

Kim Hermann

Im Hintergrund befinden sich zahlreiche hell leuchtende Galaxien im sonst dunklen Weltall. Davor befindet sich eine Wolke, die die Dunkle Materie darstellt.

Kilo-Degree Survey Collaboration/A. Tudorica/C. Heymans/ESO | Lizenz: CC BY 4.0

Im jungen Kosmos – einige Hunderttausend Jahre nach dem Urknall – war die Materie noch sehr gleichmäßig im Universum verteilt. Im Lauf der Zeit klumpte sie jedoch zusammen und es bildeten sich Sterne, Galaxien und schließlich sogar ausgedehnte Galaxienhaufen. Wie Hendrik Hildebrandt von der Universität Bochum und seine Kollegen die Struktur und die Dichte der Materie im Universum erforschen und auf welche verblüffenden Ergebnisse sie dabei gestoßen sind, berichtet der Kosmologe im Interview mit Welt der Physik.

Welt der Physik: Sie beschäftigen sich mit der Materie im Universum. Wofür interessieren Sie sich genau?

Porträt des Wissenschaftlers Hendrik Hildebrandt

Hendrik Hildebrandt

Hendrik Hildebrandt: Das heutige Universum ist mit Materie gefüllt, von Planeten über Sterne bis hin zu Galaxien und ganzen Galaxienhaufen. Diese sichtbare Materie macht etwa zwanzig Prozent des Materiegehalts des Universums aus. Die restliche Materie – die sogenannte Dunkle Materie – ist unsichtbar und macht sich lediglich über die Schwerkraft bemerkbar. In meiner Forschung interessiere ich mich dafür, wie die Materie – sowohl die sichtbare als auch die unsichtbare – in unserem Universum verteilt ist. Wir wollen etwa herausfinden, ob die Materie relativ gleichförmig im Raum verteilt ist, oder ob sie sich an vielen Orten zusammenklumpt – wie etwa in Galaxienhaufen.

Wie entstehen solche Materieklumpen?

Nach unserem aktuellen Wissensstand war die Materie kurz nach dem Urknall noch sehr regelmäßig im Universum verteilt. Das zeigen Messungen der sogenannten kosmischen Hintergrundstrahlung, die etwa 380 000 Jahre nach dem Urknall freigesetzt wurde und bis heute das Universum erfüllt. Allerdings gab es zu dieser Zeit bereits winzige Schwankungen in der Materiedichte. An den Orten, an denen die Materie etwas dichter war, wurde aufgrund der Schwerkraft noch mehr Materie aus der Umgebung angezogen. So haben sich winzige Verdichtungen zu Beginn des Universums im Lauf der Zeit zu größeren Materieklumpen entwickelt.

Wie lässt sich das untersuchen?

Um die Entstehungsgeschichte und die Entwicklung unseres Universums zu beschreiben, nutzen Physiker das sogenannte Standardmodell der Kosmologie. Mit diesem Modell können wir die Materieverteilung zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Universum berechnen – ausgehend von der Materieverteilung im jungen Kosmos. Das Ziel unserer Forschergruppe ist es, diese Vorhersagen zu überprüfen. Das machen wir, indem wir die Materieverteilung im Universum mehrere Milliarden Jahre nach dem Urknall messen. So können wir herausfinden, ob unsere Modelle die Struktur des Universums tatsächlich korrekt beschreiben.

Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Da der Großteil der Materie in unserem Universum aus Dunkler Materie besteht, lassen sich die Materieklumpen nicht direkt mit Teleskopen aufspüren. Dennoch können wir sie indirekt beobachten – über die Wirkung ihres Schwerefeldes. Denn laut der Allgemeinen Relativitätstheorie wird Licht vom Schwerefeld einer großen Masse abgelenkt. Dieser sogenannte Gravitationslinseneffekt führt dazu, dass etwa das Licht einer Galaxie – wenn sich zwischen der Galaxie und uns ein massereiches Objekt befindet – nicht auf direktem Weg auf unsere Erde trifft. Das Licht der Galaxie wird abgelenkt und verzerrt, sodass unsere Teleskope ein verzerrtes Bild der Galaxie aufnehmen.

Und durch das verzerrte Bild können Sie die Materieklumpen nachweisen?

Die Abbildung zeigt den Gravitationslinseneffekt. Am oberen Bildrand sind elliptische Galaxien dargestellt, deren Licht bis an den unteren Bildrand verläuft. Dort treffen sie auf einen Ausschnitt des beobachteten Himmels. Auf seinem Weg kommt das Licht an massereichen Objekten vorbei, die als kleine Kreise dargestellt sind. An diesen Kreisen wird der Weg des Lichts gebogen.

Gravitationslinseneffekt

Genau, allerdings ist der Effekt mit dem bloßen Auge meist nicht erkennbar. Wir müssen die Form von sehr vielen Galaxien analysieren, die sich im gleichen Bereich des Himmels befinden. Sind die Galaxien im Mittel in eine bestimmte Richtung verzerrt, können wir darauf schließen, dass sich dort eine größere Masse vor den Galaxien befinden muss. Um zu bestimmen, wie groß diese Masse ist, müssen wir allerdings noch wissen, wie weit die Lichtquellen von uns entfernt sind. Denn genau wie bei einer optischen Linse hängt auch das Abbild durch die Gravitationslinse von der Position der Lichtquelle ab.

Wie bestimmen Sie diese Entfernung?

Für die Entfernungsbestimmung der Galaxien nutzen wir ein weiteres physikalisches Phänomen: Je weiter eine Galaxie von uns entfernt ist, desto schneller bewegt sie sich aufgrund der Expansion des Universums von uns weg. Aufgrund dieser Bewegung erreicht das Licht der Galaxien die Erde mit einer geringeren Frequenz und ist in den Bereich der roten Farben verschoben. Dieser Effekt ähnelt dem Dopplereffekt, der bei Schallwellen auftritt, wenn etwa ein Feuerwehrauto mit Sirene an uns vorbeifährt und sich dabei die Frequenz des Tons ändert. Mithilfe von Teleskopen können wir die Rotverschiebung sichtbar machen, indem wir die Galaxien mit verschiedenen Farbfiltern betrachten und ihre relative Helligkeit untersuchen. Je weiter die Galaxien von uns entfernt sind, desto röter erscheinen sie uns. Aus der Kombination von den verzerrten Bildern der Galaxien und ihrer Rotverschiebung können wir anschließend untersuchen, wie viel Materie sich in dem beobachteten Bereich befindet.

Was haben Sie dabei herausgefunden?

Wir haben mehrere Millionen Galaxien beobachtet und anhand dieser Daten einen Wert berechnet, der die Dichte der Materie in unserem Universum sowie ihre Tendenz, Materieklumpen zu bilden, berücksichtigt. Das Erstaunliche an dem Ergebnis ist, dass unser Wert deutlich von dem abweicht, was wir von den Messungen der kosmischen Hintergrundstrahlung – hochgerechnet mit dem Standardmodell der Kosmologie – erwartet hatten. Bereits seit einigen Jahren haben wir Hinweise auf diese Abweichung, die wir nun mit unseren neuesten Messungen nochmals bestätigen konnten.

Was bedeutet diese Abweichung?

Statistisch gesehen liegt die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden Werte doch noch miteinander in Einklang gebracht werden können, bei etwa einem Prozent. In Zukunft wollen wir Daten von weiteren Galaxien auswerten, um unsere Aussagekraft zu erhöhen. Gleichzeitig wollen wir mögliche systematische Fehler bei der Bestimmung der beiden Werte ausschließen. Sollte die Diskrepanz zwischen unseren Messungen und den theoretischen Berechnungen bestehen bleiben, könnte dies bedeuten, dass sich das Universum doch anders entwickelt hat, als wir es aufgrund der Messungen der Hintergrundstrahlung und des Standardmodells der Kosmologie bisher annehmen.

Es könnte also sein, dass das kosmologische Standardmodell verworfen wird?

Das ist eine Möglichkeit. Wissenschaftler arbeiten bereits an zahlreichen Alternativen – von der Erweiterung des Standardmodells bis hin zu einer komplett neuen Theorie. Beispielsweise könnte sich die sogenannte Dunkle Energie – die für die beschleunigte Expansion des Universums sorgt – mit der Zeit verändern. Dadurch ließe sich möglicherweise die Diskrepanz zwischen unseren Ergebnissen der Materieverteilung und den Hochrechnungen erklären, die sich aus der Hintergrundstrahlung und dem Standardmodell der Kosmologie ergeben. Doch das kosmologische Standardmodell hat sich in der Vergangenheit immer wieder bewährt und kann den Großteil unserer Beobachtungen erklären. Damit sich ein anderes Modell durchsetzt, benötigen wir daher schlagkräftigere Hinweise. So wird sich hoffentlich mit der Auswertung weiterer Daten zeigen, ob wir für die Beschreibung unseres Kosmos tatsächlich ein neues Modell brauchen und falls ja, wie dieses Modell aussehen muss.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/universum/kosmologie/moegliche-abweichungen-vom-standardmodell/