Das Standardmodell: umfassend – aber nicht genug

Robert Harlander

Von der Bildmitte führen viele Linien weg, auf denen bunte Kügelchen sitzen.

Der Fund eines bisher unbekannten Teilchens im Juli 2012 stellt einen Meilenstein der Physik dar – unabhängig davon, ob es sich dabei tatsächlich um das Higgs-Boson oder ein grundlegend neues Teilchen handelt. Die Entdeckung treibt nicht nur die Suche nach Theorien jenseits des Standardmodells voran, sie wirft auch interessante wissenschaftstheoretische und philosophische Fragestellungen auf.

Das erste große Ziel des Large Hadron Collider (LHC) am Forschungszentrum CERN in Genf ist erreicht: Knapp zwei Jahre nach der ersten Datennahme entdeckten Wissenschaftler dort ein neues Teilchen, bei dem es sich allem Anschein nach um das lange gesuchte Higgs-Teilchen handelt. Möglicherweise ist damit der „letzte Baustein der Materie” gefunden – nach jahrzehntelanger gemeinsamer Forschung und Entwicklung durch Teilchenphysiker.

Theoretische Physiker schlugen das grundlegende Konzept des Higgs-Mechanismus vor und machten präzise Voraussagen seiner Eigenschaften. Experimentalphysiker entwickelten neue Datenanalysen und Technologien für Nachweisgeräte, um einige Hundert Higgs-Ereignisse aus Abermillionen von Untergrund-Ereignissen herauszufiltern. Und nicht zuletzt konstruierten Beschleunigerphysiker und Ingenieure neuartige supraleitende Magneten, mit denen sich am LHC die nötigen, bis dahin unerreichten Strahlenergien und -intensitäten überhaupt erst erzielen ließen.

Der letzte Baustein des Standardmodells

Mit der Entdeckung des Higgs-Teilchens wäre das sogenannte Standardmodell der Teilchenphysik komplett. Letzteres führt die gesamte im Universum sichtbare Materie auf zwölf Materieteilchen zurück, wobei nur drei davon in der stabilen Materie auftreten. Zudem beschreibt das Modell drei der vier fundamentalen Wechselwirkungen – und zwar durch den Austausch von weiteren Teilchen: den Elektromagnetismus durch Photonen, die schwache Wechselwirkung durch W- und Z-Bosonen und die starke Wechselwirkung durch Gluonen.

Die Gravitation als vierte fundamentale Kraft widersetzt sich bislang allen Versuchen, sie im Rahmen der Quantentheorie zu formulieren. Sie lässt sich deshalb bislang auch nicht ins Standardmodell integrieren. Alle Materieteilchen des Standardmodells und alle Wechselwirkungen wurden im Lauf der vergangenen zwanzig bis dreißig Jahre mit höchster Präzision vermessen. Bis vor Kurzem fehlte allerdings der experimentelle Nachweis des mathematischen Mechanismus, mit dem das Standardmodell die Massen der fundamentalen Teilchen beschreibt. Diese Lücke scheinen Physiker mit dem neuen Teilchenfund geschlossen zu haben.

Alles, was wir sehen – Menschen, Tiere, Pflanzen, Erde und Planeten – besteht aus Materieteilchen. Insgesamt gibt es zwölf Materieteilchen, die in sechs Quarks und sechs Leptonen unterteilt werden. Beide Gruppen bestehen aus Teilchen dreier Familien.

Elementarteilchen und Grundkräfte

Das Higgs-Teilchen oder Higgs-Boson postulierte man vor knapp fünfzig Jahren aus rein theoretischen Gründen. Ohne dieses Teilchen führt der Versuch, aus dem Standardmodell präzise theoretische Vorhersagen für Teilchenreaktionen abzuleiten, zu unsinnigen Ergebnissen. So ergeben sich beispielsweise Wahrscheinlichkeiten, die größer sind als hundert Prozent. Mit dem Higgs-Boson wird aus dem Standardmodell eine konsistente mathematische Theorie: Alle Berechnungen lassen sich im Prinzip mit beliebiger Genauigkeit durchführen, ohne dass es zu inneren Widersprüchen kommt. So konnten Physiker beispielsweise aus dem Vergleich von Präzisionsmessungen der LEP-Experimente – dem Vorläuferexperiment des LHC – mit Präzisionsrechnungen die bis dahin unbekannte Masse des Higgs-Teilchens vorhersagen, ohne es direkt beobachtet zu haben. Das neu gefundene Teilchen stimmt voll mit dieser Erwartung überein.

Der Grund für die inneren Widersprüche der Theorie ohne Higgs-Boson sind die Massen der fundamentalen Teilchen – insbesondere von den Austauschteilchen der schwachen Wechselwirkung, den W- und Z-Bosonen, aber auch von Materieteilchen wie Elektronen oder Quarks. Der sogenannte Higgs-Mechanismus ist die bislang einfachste bekannte Möglichkeit, diese Massen mathematisch widerspruchsfrei im Standardmodell zu berücksichtigen. Demnach treten alle massebehafteten Teilchen mit einem Feld in Wechselwirkung, das den gesamten Raum ausfüllt. Diese Annahme führt unweigerlich zur Vorhersage des Higgs-Bosons. Man spricht daher oft davon, dass das Higgs-Boson beziehungsweise der Higgs-Mechanismus die Massen der Teilchen „erzeugt“.

Skepsis der Teilchenphysiker

Tatsächlich ist der Higgs-Mechanismus, wie er im Standardmodell implementiert ist, unter Teilchenphysikern nicht besonders populär. Kurz vor der Entdeckung am LHC waren die Erwartung geteilt: Etwa die Hälfte der Teilnehmer hatte diese Entdeckung erwartet, die andere Hälfte hielt sie für eher unwhrscheinlich. Das geht aus einer Umfrage der Bergischen Universität Wuppertal hervor, an der mehr als tausend Physiker teilnahmen.

Das Schaubild zeigt ein Bündel aus geraden und gekrümmten Linien, die sich vom Kollisionspunkt fortbewegen.

Proton-Proton-Kollision

Für die Skepsis der Teilchenphysiker gegenüber dem Higgs-Mechanismus im Standardmodell gibt es viele Gründe. Einer der wichtigsten betrifft den unüblichen Wert „Null“ für den Eigendrehimpuls oder Spin des Higgs-Teilchens. Denn theoretische Argumente sprechen dafür, dass Elementarteilchen ohne diese quantenmechanische Eigenschaft sehr viel schwerer sein müssten als der jetzt entdeckte Higgs-Kandidat. Zudem setzen sich alle bisher beobachteten Teilchen ohne Spin aus verschiedenen Teilchen mit höherem Spin zusammen, sind also keine Elementarteilchen. Dieser Erfahrungswert lässt Teilchenphysiker am Higgs-Mechanismus zweifeln – trotz der guten Ergebnisse.

Viele alternative Methoden sind ebenfalls in der Lage, den Ursprung der Teilchenmassen zu erklären. Häufig erscheinen sie – von einem philosophischen Standpunkt aus betrachtet – sogar attraktiver als der Higgs-Mechanismus. In ihrer einfachsten und daher ästhetischsten Form sind sie aber in der Regel nicht mit Präzisionsmessungen vereinbar. Die notwendigen Modifikationen, die dafür vorgenommen werden müssen, sind dann wiederum so aufwändig, dass sie das Modell unattraktiv machen.

Die Inkonsistenzen des Standardmodells ohne geeigneten Mechanismus zur Massenerzeugung sind so schwerwiegend und die Vermessung des Standardmodells durch Experimente so präzise, dass der Großteil der Physiker davon überzeugt war, dass „etwas Neues“ im Massenbereich zwischen hundert und zweihundert Gigaelektronenvolt gefunden werden muss. Dass es sich dabei um ein Teilchen handelt, das so gut mit den hypothetischen Eigenschaften des Higgs-Bosons übereinstimmt, ist trotz des Erfolgs der Theorie für viele fast schon wieder enttäuschend.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/bausteine/jenseits-des-standardmodells/das-standardmodell-umfassend-aber-nicht-genug/