„Ein echter Prüfstein für das Standardmodell“

Dirk Eidemüller

Maschine in kreisrunder Anordnung, in der Mitte des Kreises stehen mehrere Server- und Schaltschränke, an denen Menschen arbeiten

Ryan Postel/Fermilab

Im April 2021 sorgten Experimente mit Myonen am Fermilab in Chicago für großen Aufruhr: Die magnetischen Eigenschaften des Elementarteilchens schienen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mit dem Standardmodell der Teilchenphysik vereinbar zu sein. Nun haben Forscherinnen und Forscher die Daten von zwei weiteren Messphasen des Experiments „Muon g-2“ analysiert und ihre Ergebnisse im Rahmen einer Tagung veröffentlicht. Im Interview mit Welt der Physik berichten Martin Fertl und René Reimann von der Universität Mainz über die Genauigkeit der neuen Ergebnisse und was sie für die Teilchenphysik bedeuten.

Welt der Physik: Welche Eigenschaft des Myons haben Sie mit dem Experiment untersucht?

Gruppenbild von vier Wissenschaftlern

Martin Fertl, René Reimann und Kollegen

Martin Fertl: Man spricht den Namen des Experiments als „Myon g minus zwei“ aus. Myonen und andere Elementarteilchen wie etwa Elektronen weisen ein winziges magnetisches Moment auf, sie verhalten sich also wie kleine Stabmagneten. Die Stärke dieses magnetischen Moments wird mit „g“, dem sogenannten „gyromagnetischen“ Faktor, beschrieben. Nach den Berechnungen der relativistischen Quantenmechanik sollte dessen Wert eigentlich exakt zwei betragen. Aber die Wechselwirkungen der Elementarteilchen mit dem Vakuum erhöhen den g-Faktor ein kleines bisschen auf einen Wert über zwei. Wir bestimmen mit dem Experiment am Fermilab diese Differenz und können so die Quanteneigenschaften des Vakuums untersuchen.

Das Vakuum ist laut der Quantentheorie also nicht leer?

Auch ein perfektes Vakuum, das keinerlei Atome, Moleküle oder externe Felder beinhaltet, ist niemals ganz leer. Denn nach der Heisenbergschen Unschärferelation können sich für sehr kurze Zeit Paare aus Teilchen und Antiteilchen bilden. Diese sogenannten virtuellen Teilchen verschwinden zwar gleich wieder nach ihrer Entstehung, haben aber dennoch einen messbaren Effekt auf reale Teilchen. Das sorgt unter anderem dafür, dass Myonen ein magnetisches Moment aufweisen, das leicht von zwei verschieden ist.

Die neuen Ergebnisse liefern nun einen Wert für den g-Faktor, der sogar deutlich höher ist als von der Theorie vorhergesagt. Was bedeutet das?

René Reimann: Das ist ein spektakuläres Ergebnis. Wir haben dafür die Daten der zweiten und dritten Messphase des Experiments analysiert. Damit werden nicht nur ältere Ergebnisse bestätigt, die wir in der ersten Messphase gemacht haben und die auch das Vorläuferexperiment in Brookhaven geliefert hat. Vor allem konnten wir die statistische Unsicherheit der Messung, also die Fehlerbalken nochmals deutlich verringern. Das war eine große Leistung aller beteiligten Forscherinnen und Forscher. Die Diskrepanz zum Literaturwert, der mithilfe des Standardmodells der Teilchenphysik berechnet wurde, beträgt nun sogar gut fünf Sigma.

Nach der ersten Messphase betrug diese Diskrepanz 4,2 Sigma. Wie ist es Ihnen denn gelungen, die Genauigkeit des Experiments so stark zu verbessern?

Martin Fertl: Wir haben in der ersten Messphase, dem Run 1, zwar bereits eine gute Stabilität des gesamten Aufbaus erreicht. Aber einzelne Dinge haben dennoch die theoretisch erreichbare Präzision der Messungen beeinträchtigt. Für das Experiment werden Myonen, die mit dem Teilchenbeschleuniger am Fermilab erzeugt werden, in einen Speicherring eingespeist. Dort kreisen sie fast mit Lichtgeschwindigkeit und werden mit starken Magneten auf ihrer Bahn gehalten, während wir ihr magnetisches Moment vermessen. Nun haben wir gesehen, dass sich das Eisenjoch des Magneten im Tagesverlauf langsam erwärmte und wieder abkühlte. Und das hat die zeitliche Stabilität der Messungen und räumliche Verteilung der Myonen negativ beeinflusst. Deshalb haben wir für Run 2 und Run 3 den Magneten in ein isolierendes Material eingepackt und die Klimatisierung der Halle verbessert, sodass dessen Temperatur sehr stabil blieb.

Gab es noch andere entscheidende Verbesserungen?

René Reimann: An vielen Stellen des Experiments gab es kleine Dinge zu ändern. Kolleginnen und Kollegen aus den USA haben zum Beispiel den Kicker-Magneten optimiert. So heißt der extrem schnell schaltende Magnet, der die Myonen aus dem Strahl des Teilchenbeschleunigers in unser Experiment einspeist. In Run 3 erreichte der Kicker-Magnet erstmals die notwendige Stärke, um die Myonen auf ihre optimale Umlaufbahn zu schicken. Es wurde auch neue Messtechnik entwickelt: beispielsweise Magnetsonden, mit denen wir das Magnetfeld der gepulsten Komponenten besser ausmessen können. Auch den Myonenstrahl selbst können wir mittlerweile besser kontrollieren, sodass er weniger Schwankungen aufweist. All das hat in Summe dazu geführt, dass wir schon während Run 2 und Run 3 die ursprünglich geplanten Spezifikationen der Anlage ein ganzes Stück weit übertroffen haben. Darauf sind alle Beteiligten wirklich stolz und das macht dieses Experiment jetzt zum echten Prüfstein für das Standardmodell.

Das Ergebnis ist aber kein Grund, sich vom Standardmodell der Teilchenphysik zu verabschieden?

Martin Fertl: Nein. Das Ergebnis ist zunächst einmal ein Aufruf an die Theoretikerinnen und Theoretiker der „Muon g-2 Theory Initiative“, sich noch einmal ganz grundlegend Gedanken über ihre Berechnungen zu machen. Der Literaturwert für das anomale magnetische Moment von Myonen wurde mit Berechnungsverfahren, die über Jahrzehnte hinweg verbessert wurden, im Jahr 2020 ermittelt. Er passt aber überhaupt nicht zu unseren Messergebnissen, worüber wir uns zwar freuen könnten, wäre es doch der lang ersehnte Beweis für neue Physik jenseits des Standardmodells. Allerdings gibt es inzwischen zwei neue theoretische Berechnungen des Wertes, die beide weniger stark von unseren Ergebnissen abweichen. Im Augenblick sieht es also so aus, als würde nicht das Standardmodell kippen, sondern möglicherweise der Literaturwert des anomalen magnetischen Moments des Myons.

Wie wurden denn die beiden neuen Werte berechnet?

Es handelt sich um zwei grundlegend unterschiedliche Methoden. Einmal versucht man, mit komplexen Computersimulationen das immens komplexe Zusammenspiel der virtuellen Teilchen nur anhand der elementaren Naturgesetze nachzustellen. Diese Simulationen mit Supercomputern sind erst in den letzten Jahren gut genug geworden, um mit ihnen vernünftige Werte und Fehlerbalken zu erhalten, die man überhaupt mit den Experimenten vergleichen kann. Und dann gibt es die etablierten Rechenverfahren, die zusätzlich zu den Naturgesetzen noch experimentelle Daten benötigen. Und sowohl diese Berechnungen mit Messdaten als auch die Computersimulationen weisen auf einen Theoriewert hin, der weit weniger von unseren neuen Messungen abweicht als der zurzeit gültige Literaturwert.

Was heißt das für die Teilchenphysik?

René Reimann: Für uns und auch für die Theoretikerinnen und Theoretiker heißt das erst einmal viel Arbeit. In den vergangenen Jahren haben wir schon die Daten von drei weiteren Messphasen aufgenommen und in einigen Monaten wird das Experiment dann stillgelegt. Wir arbeiten bereits an der Analyse dieser drei neuen Messphasen. Und die Theoretikerinnen und Theoretiker werden in den nächsten Jahren sehr intensiv an der Beschreibung des Myons arbeiten. In rund zwei Jahren sollten sowohl die neuen experimentellen als auch die neuen theoretischen Ergebnisse vorliegen. Dann wird man wieder alle Werte miteinander vergleichen und sehen, ob das Standardmodell immer noch Gültigkeit beanspruchen kann. Bislang hat es ja seit Jahrzehnten gehalten und allen Angriffen getrotzt.

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Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/bausteine/elementarteilchen-ein-echter-pruefstein-fuer-das-standardmodell/