„Das Potenzial ist enorm“

Jan Oliver Löfken

Modell eines zweidimensionalen Materials

Ursula Wurstbauer

Mithilfe von Klebestreifen stellte eine Gruppe um Andre Geim und Konstantin Novoselov im Jahr 2004 erstmals einatomige Lagen aus Kohlenstoff her – sogenanntes Graphen. 2010 erhielten die beiden dafür den Physiknobelpreis. Seither haben Wissenschaftler viele weitere ultradünne Materialien untersucht und stießen dabei auf verblüffende Eigenschaften. Im Interview mit Welt der Physik spricht Ursula Wurstbauer von der Technischen Universität München über die physikalischen Grundlagen solcher zweidimensionalen Materialien und über mögliche Anwendungsbereiche.

Welt der Physik: Was genau sind zweidimensionale Materialien und woraus bestehen sie?

Ursula Wurstbauer: Zweidimensionale Materialien sind im Grunde maximal flache Kristalle mit einer klar definierten Struktur. Eine einzelne Schicht ist dabei teils deutlich dünner als ein Nanometer. Die Entdeckung von Graphen – einer einatomigen Lage aus Kohlenstoffatomen – im Jahr 2004 war ein wirklicher Kickoff für dieses Forschungsfeld. Aber solche Monolagen lassen sich auch aus vielen anderen Materialien herstellen, etwa aus Bornitrid oder aus sogenannten Metall-Dichalcogeniden. Das sind spezielle kristalline Verbindungen wie beispielsweise Molybdändisulfid.

Porträt der Wissenschaftlerin Ursula Wurstbauer

Ursula Wurstbauer

Wie lassen sich diese 2D-Materialien untersuchen?

So dünn diese Materialien auch sind – sie lassen sich sogar mit optischen Mikroskopen sichtbar machen. Selbst ein einfaches Lichtmikroskop reicht dazu aus. Experimente mit 2D-Materialien sind daher schon in der Schule möglich. Wichtig dabei ist ein hoher Kontrast zwischen der zweidimensionalen Schicht und der Unterlage. Hat die zweidimensionale Schicht eine Ausdehnung von einigen Dutzend Mikrometern, lässt sie sich sogar mit dem bloßen Auge erahnen.

Und was macht 2D-Materialien so besonders?

Sie eröffnen einen großen Bereich an Funktionalitäten, die dreidimensionale Festkörper aus den gleichen Substanzen nicht bieten. Abhängig vom Material und von der Gittersymmetrie zeigen die zweidimensionalen Materialien neue optische, elektronische, magnetische oder sogar supraleitende Eigenschaften. Ganz aktuell forscht man beispielsweise an ersten Supraleitern aus Kohlenstoff, bei denen der Rotationswinkel zwischen den Graphenschichten eine zentrale Rolle spielt. Dieser Twist – diese Verdrehung der Schichten – beeinflusst grundlegend die Eigenschaften des Materials.

Wieso verhalten sich die zweidimensionalen Schichten anders als dreidimensionale Festkörper?

Für das Verhalten sind quantenmechanische Eigenschaften an der Grenzfläche des Materials verantwortlich. Im dreidimensionalen Kristall sind die Elektronen in allen Richtungen vom gleichen Material umgeben. In einer zweidimensionalen Schicht befindet sich dagegen Luft auf der einen und die Unterlage auf der anderen Seite. Dadurch verhalten sich die Elektronen anders als im Festkörper. Auch Gitterschwingungen lassen sich im flachen Kristall leichter beeinflussen als im Festkörper. Wir sind gerade dabei, die Grundlagen dieses Verhaltens genau zu entschlüsseln. Dünne Schichten aus einer bis zwei Monolagen zeigen beispielsweise noch die veränderten Eigenschaften. Ab drei Lagen ist jedoch oft Schluss: Generell zeigt eine Schicht zwischen drei und zehn Lagen wieder die typischen Eigenschaften eines Festkörpers.

Das Bild zeigt eine geometrische Struktur.

Kristalline Flocke

Wie stellt man solche extrem dünnen Schichten her?

Das ist eigentlich nicht so schwierig. In der Grundlagenforschung dominiert immer noch der Klebestreifen. Mit dieser Methode haben auch die Nobelpreisträger Andre Geim und Konstantin Novoselov einzelne Atomlagen aus Graphen von einem Graphitblock abgeschält. Je nach Material sind aber jeweils andere Klebefilme am besten geeignet. Auch ein Küchenmixer kann genutzt werden: Beim schnellen Verrühren wirken starke Scherkräfte auf das in einer Flüssigkeit verteilte Material. Dabei entstehen kleine kristalline Flocken, die mit einer Zentrifuge aussortiert werden können. Größere Flächen lassen sich beispielsweise mit sogenannten Aufdampfverfahren herstellen. Und es gibt bereits gute Erfahrungen mit flachen Kristalliten aus einer Art Tintenstrahldrucker.

Wofür lassen sich die verschiedenen 2D-Materialien nutzen?

Schon heute haben wir einen kompletten Zoo an unterschiedlichen 2D-Materialien. Graphen etwa könnte man für durchsichtige, flexible Elektroden in einem Touchscreen nutzen. Aus Molybdändisulfid-Schichten wurde bereits ein kompletter Mikroprozessor gefertigt. Auch an neuen Materialien für Solarzellen wird gearbeitet. Wir untersuchen zudem die katalytischen Eigenschaften, um chemische Reaktionen effizienter zu gestalten. Neue Sensoren, die empfindlich auf Druck oder Wärme reagieren, sind möglich. Auch lassen sich mit 2D-Materialien die Funktionalitäten von natürlicher Haut mit ihren Nervenzellen nachstellen. Gerade im Bereich der virtuellen Realität wären solche Module interessant – als haptisches Interface, um Tasteindrücke zu vermitteln. Nicht zuletzt sind Anwendungen auf dem Feld der Quanteninformation vorstellbar: etwa neuartige Lichtquellen für einzelne Photonenpaare – eine wichtige Voraussetzung für die Quantenverschlüsselung von Daten.

Vergrößertes Bild von mehreren verschiedenfarbigen übereinanderliegenden Flächen

2D-Materialien unter dem Mikroskop

Wie weit ist die Forschung an zweidimensionalen Materialien nach knapp 15 Jahren?

Es ist noch ein sehr junges Forschungsfeld. Trotz vieler Ergebnisse stehen wir bei den 2D-Materialien noch ganz am Anfang. Um die Grundlagen besser zu verstehen und Anwendungen zu entwickeln, arbeiten Physiker, Chemiker, Materialwissenschaftler, Biologen und Elektrotechniker interdisziplinär zusammen. Das Potenzial ist enorm und die Grenzflächen stehen im Mittelpunkt. Erste Anwendungen erwarte ich im Bereich der Sensorik und für gedruckte Elektronik. Definitiv wird es optoelektronische Anwendungen geben – etwa für neue Solarzellen, die deutlich weniger Material als heute benötigen. Auch die Spintronik, bei der nicht die Ladung eines Elektrons, sondern der Eigendrehimpuls eines Teilchens zum Rechnen genutzt wird, kann von 2D-Materialien profitieren. Katalytische Verfahren wie beispielsweise zur Spaltung von Wassermolekülen mit Sonnenlicht werden noch etwas dauern. Auch zweidimensionale Supraleiter und Anwendungen als Photonenquelle für Quanteninformationssysteme liegen wohl noch in weiterer Ferne. Aber es ist wirklich schön, dass ein einziges Materialsystem eine so große Bandbreite bietet.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/materie/graphen/das-potenzial-ist-enorm/