„Das wäre ein neuer Zweig der Chemie“

Dirk Eidemüller

Die Illustration zeigt zwei Diamanten, sowie Funken und geometrische Strukturen, die sich dazwischen befinden.

Timofey Fedotenko

Unter ultrahohem Druck lassen sich neuartige Materialien erzeugen, die überraschende chemische und physikalische Eigenschaften aufweisen. Das ermöglicht neue Erkenntnisse über das Innere von Planeten oder die Synthese von technologisch wichtigen Materialien. Auf der Suche nach bislang unbekannten Phänomenen oder Materialien versuchen Forscher den Druck, der während der Experimente auf die Materialien ausgeübt wird, immer weiter zu erhöhen. Im Interview mit Welt der Physik berichtet Natalia Dubrovinskaia von der Universität Bayreuth, wie sie und ihre Kollegen nun Drücke im Bereich von einem Terapascal erzeugt haben.

Welt der Physik: Warum ist es wichtig, Materialien unter hohem Druck zu untersuchen?

Porträt der Wissenschaftlerin Natalia Dubrovinskaia

Natalia Dubrovinskaia

Natalia Dubrovinskaia: Druck ist ein äußerst wichtiger physikalischer Parameter. Wird er auf ein Material ausgeübt, verändert er dessen Energielandschaft drastisch. Um ein Gefühl für die Größenordnung zu bekommen: Ein Druck von einem Gigapascal, also des rund 10 000-fachen Atmosphärendrucks, entspricht einer Erwärmung des Materials um 1000 Grad Celsius. Ein äußerer Druck führt also zu einer Vielzahl von Phänomenen, die für ein breites Spektrum wissenschaftlicher Disziplinen und technologischer Anwendungen von Bedeutung sind – vom grundlegenden Verständnis des Universums bis zur gezielten Entwicklung fortschrittlicher Materialien.

Welche Anwendungen sind dabei besonders relevant?

Es ist bekannt, dass die Kompression zum Beispiel Metall-Isolator-Übergänge, Supraleitung und andere interessante Phänomene begünstigt. Um solche technologisch interessanten Phänomene zu verstehen, muss man wissen, welche Strukturen, chemischen Bindungen und physikalischen Eigenschaften in diesen Materialien bestehen. Dann kann man diese Eigenschaften gezielt erzeugen und Materialien für technologische Anwendungen entwickeln, die auch unter gewöhnlichen Umgebungsbedingungen die gewünschten Eigenschaften aufweisen. Und dafür machen wir unsere Experimente unter Hochdruck.

Wie erzeugen Sie den hohen Druck?

Stark vergrößertes Schwarz-Weiß-Bild einer Faser. Ein Bildausschnitt, auf dem kristalline Strukturen zu sehen sind, ist hervorgehoben.

Hochdruckkammer

Um sehr hohe statische Drücke zu erzeugen, verwenden wir ein Instrument, das als Diamantstempelzelle, kurz DAC für diamond anvil cell, bezeichnet wird. Das zu untersuchende Material wird zwischen zwei sehr kleinen Diamantspitzen in Edelsteinqualität – den sogenannten Diamantstempel – zusammengepresst. Aufgrund der extrem hohen Druckfestigkeit von Diamant können wir mit einer herkömmlichen DAC einen Druck von bis zu 200 Gigapascal auf eine Probe ausüben. Je höher der Druck, desto mehr ungewöhnliche chemische und physikalische Phänomene lassen sich beobachten, wie etwa chemische Reaktionen, die bei normalem Druck unmöglich wären. Durch die Erfindung einer zweistufigen DAC hat unsere Forschungsgruppe nun den statischen Druckbereich für Materialuntersuchungen auf bis zu einem Terapascal, also 10 Millionen Atmosphären, erweitert. Dazu haben wir die Spitzen einer herkömmlichen DAC verkleinert und darauf jeweils einen weiteren Diamantstempel gesetzt. Dadurch ließ sich die Fläche verringern und somit der Druck erhöhen.

Welche neuartigen Materialien haben Sie bei Ihren Experimenten entdeckt?

Unsere systematischen Studien unter extremen Druck-Temperatur-Bedingungen haben zur Synthese einer Reihe von neuen Materialklassen geführt. Eine neuartige Klasse von sogenannten Rheniumboriden liefert beispielsweise Materialien mit hervorragenden mechanischen Eigenschaften. Wir haben außerdem zum ersten Mal bisher unbekannte Stickstoffverbindungen synthetisiert und gezeigt, dass es sich um eine ganze Klasse von Polynitriden mit einstellbaren chemischen und physikalischen Eigenschaften handelt.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Wir haben ein schichtförmiges Material synthetisiert, das wir Beryllonitren genannt haben. Beryllonitren stellt eine qualitativ neue Klasse von 2D-Materialien dar. Das elektronische Gitter von Beryllonitren erinnert an das von Graphen mit einer wabenförmigen Anordnung, ist aber leicht verzerrt. Die besonderen Eigenschaften dieses neuen Materials machen es zu einem vielversprechenden Kandidaten für Anwendungen in Quantengeräten.

Was lässt sich aus der Kristallstruktur unter hohem Druck allgemein über Festkörperphysik oder -chemie lernen?

Chemische Struktur eines Elements

Struktur von Beryllonitren

Indem wir neue Arten von bisher unbekannten Materialien entdecken und ihre Strukturen und Eigenschaften studieren, lernen wir zunächst, wie wenig wir noch über die Materie wissen. Doch Schritt für Schritt finden wir Regelmäßigkeiten in den Strukturen, chemischen Bindungen und Eigenschaften. Das ermöglicht es, die physikalischen und chemischen Prozesse, die ihrer Entstehung zugrunde liegen, zu entschlüsseln. Und auch für andere Forschungsbereiche ist das interessant: Ein großer Teil der Materie im Innern von Planeten befindet sich auch unter sehr hohem Druck. Unsere Studien betreffen damit nicht nur die Festkörperphysik oder -chemie, sondern erweitern auch unser Verständnis der Planeten im Universum.

Was werden die nächsten Schritte in der Hochdruckforschung sein?

Das lässt sich nur schwer vorhersagen. Die Entdeckung solcher Verbindungen ermutigt zur weiteren Erforschung der bemerkenswerten Chemie und der physikalischen Eigenschaften von Polynitriden. Die Fähigkeit des Stickstoffs, die von uns entdeckten Struktureinheiten zu bilden, zeigt, dass wir vielleicht kurz davorstehen, einen neuen Zweig der Chemie zu eröffnen – die organische Stickstoffchemie unter ultrahohem Druck.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/materie/materialforschung-das-waere-ein-neuer-zweig-der-chemie/