Würmer als Vorbild für neue Materie

Jan Oliver Löfken

Knäuel aus weißen, nahezu transparenten, Würmern

Harry Tuazon

Von Polymerketten über Erbgutmolekülen bis hin zu Kabeln – lange Stränge neigen dazu, sich zu komplexen und teils nur sehr schwer entwirrbaren Knäueln ineinander zu verschlingen. Bisher ist es allerdings noch nicht gelungen, diese Prozesse mit mathematischen Modellen exakt zu beschreiben. Einen neuen Ansatz verfolgen Forschende nun mit dem Blick auf das Verhalten von Glanzwürmern. Mit ausgeklügelten Methoden entschlüsselten sie, wie diese Würmer Knäuel bilden und sehr schnell wieder auflösen können. Wie die Forscherinnen und Forscher in der Fachzeitschrift „Science“ berichten, könnten ihre Erkenntnisse in Zukunft zu einer neuen, sich selbst organisierenden Materialklasse aus ineinander verschlungenen Strängen führen.

In der Natur können sich die Glanzwürmer Lumbriculus variegatus innerhalb weniger Minuten zu komplexen Knäuel aus bis zu 50 000 Würmern anordnen, um sich gegenseitig warm zu halten. Bei Gefahr schaffen sie es jedoch, ihr Knäuel in Bruchteilen von Sekunden wieder aufzulösen und so zu flüchten. Genau dieses einzigartige Verhalten analysierten nun Vishal Patil von der Stanford University und sein Team genauer. Mit Ultraschallwellen untersuchten die Forschenden lebende Knäuel aus einigen Dutzend Glanzwürmern, um die Struktur dieser verschlungenen Materie zu entschlüsseln. Es zeigte sich, dass einzelne Würmer dazu neigen, mit möglichst vielen benachbarten Würmern im direkten Kontakt zu stehen. Und beim extrem schnellen Auflösen der Knäuel beobachteten die Forscherinnen und Forscher eine wellenartige, kollektive Bewegung. Diese wirkte als Signal für die Würmer, die Knäuelstruktur zu verlassen.

Patil und seinem Team gelang es zudem, das kollektive Verhalten der Glanzwürmer in einem Computermodell zu simulieren. Auch die sich spiralförmig ausbreitenden Wellen vor dem Auflösen der Knäuel ließen sich mit dem Modell nachstellen. Diese Detailanalyse könnte nach Meinung der Forschenden zur Entwicklung einer neuen Klasse von topologischen Materialien führen. Diese Materialien hätten das Potenzial, ihre physikalischen Eigenschaften abhängig von der Knäuelstruktur gezielt zu verändern und sich so selbst zu organisieren. Doch die aktuelle Wurmanalyse ist nur ein allererster Schritt hin zur Entwicklung einer solchen neuen Materialklasse.

Harry Tuazon

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/leben/nachrichten/2023/selbstorganisation-wuermer-als-vorbild-fuer-neue-materie/