„Über zweitausend Insektentomografien“

Olaf Zimmermann

Das Bild zeigt einen dreidimensionalen Ameisenkopf, der in einzelne Querschnitte zerteilt ist.

S. Schmelzle

Über einen Zeitraum von vielen Hundert Millionen Jahren haben Insekten eine erstaunliche Artenvielfalt entwickelt. Um diese Evolution genauer zu untersuchen, erzeugen Forscher mithilfe von Röntgenstrahlen hochauflösende dreidimensionale Modelle von Ameisen, Käfern und vielen anderen Insekten. Im Verbundprojekt „Netzwerk für Online-Visualisierung und synergistische Analyse von Tomografiedaten“ oder kurz NOVA entwickeln Wissenschaftler eine Plattform, um einmal gesammelte Messdaten gemeinsam nutzen zu können. Wie diese Zusammenarbeit funktioniert und warum sie so wichtig ist, erklärt Michael Heethoff von der Technischen Universität Darmstadt im Interview.

Welt der Physik: Warum interessieren Sie sich insbesondere für Insekten?

Michael Heethoff: Insekten sind aus biologischer Sicht sehr interessant, weil sie die artenreichste und individuenreichste Tiergruppe bilden. Es gibt rund eine Million dokumentierte Insektenarten, die in nahezu jedem Ökosystem – bis auf die Meere – vorkommen. Zudem ist die Evolution von Insekten schon viele Hundert Millionen Jahre im Prozess. Zu untersuchen, wie sich Unterschiede bei den verschiedenen Arten ausgebildet haben, ist daher sehr spannend.

Wie untersuchen Sie die Insekten?

Die Bilderzeugung funktioniert in unseren Versuchen genau wie bei der Computertomografie, die man aus der Medizin kennt. Wie bei einer klassischen Röntgenaufnahme durchleuchtet man zunächst eine Probe mit Röntgenstrahlen und erhält so ein Bild von ihrem Inneren. Bei der Computertomografie – und auch bei unseren Versuchen – durchstrahlt man die Probe allerdings aus verschiedenen Richtungen mit Röntgenstrahlen. Aus einigen Tausend solcher Einzelbilder rekonstruiert der Computer dann ein dreidimensionales Modell. Für unsere Versuche verwenden wir die hochintensive Röntgenstrahlung von PETRA III am Forschungszentrum DESY in Hamburg.

Das Bild zeigt einen schwarzen Kasten, aus dem viele Kabel führen. Das Experiment befindet sich im Inneren des Kastens und ist nicht zu sehen.

Röntgentomografie an PETRA III

Welche Auflösung erreichen Sie mit dem Verfahren?

Ein klinischer Computertomograf hat eine Auflösung von etwa einem Millimeter. Es geht auch etwas mehr, allerdings steigt dabei die Strahlenbelastung für den Patienten. Bei unserer Röntgentomografie ist die Auflösung etwa tausendmal größer. Diese hohe Genauigkeit erreicht man vor allem durch eine hohe Strahlqualität. Denn im Vergleich zur medizinischen Computertomografie sind die Röntgenstrahlen von PETRA III sehr stark fokussiert. Das ist in etwa vergleichbar mit dem Unterschied zwischen einer Taschenlampe und einem Laserpointer.

Im Verbundprojekt NOVA wollen Sie die gesammelten Messdaten auf einer neuen Plattform für viele Forscher zugänglich machen. Welche Idee steckt dahinter?

Um die aufgenommenen Messdaten in dreidimensionale Modelle umzuwandeln, ist viel Mathematik und Rechenleistung nötig. Denn es geht um riesige Datenmengen – einige Terabyte pro Experiment –, die teilweise per Hand ausgewertet werden. Das ist sehr zeitaufwendig und mühsam. Derzeit führt jede Forschergruppe eigene Experimente durch. Aus den gewonnenen Daten extrahieren sie dann nur die jeweils für sie interessanten Teile. Der Ansatz von NOVA ist nun, die gesammelten Daten in einem Onlineportal mit der Forschergemeinschaft zu teilen und auch teilweise automatisch auszuwerten. So können wir kostbare Messzeit einsparen und den Aufwand für die Auswertung verringern.

Wie ist der aktuelle Stand des Projekts?

In den letzten Jahren haben wir über zweitausend Insektentomografien aufgenommen, die zum Teil bereits über ein Onlineportal für Wissenschaftler, die an PETRA III messen, frei zugänglich sind. Dort lassen sich die Daten auch visualisieren: Innerhalb weniger Augenblicke erhält man ein dreidimensionales Modell, das sich am Bildschirm drehen und vergrößern lässt. Zudem kann man bestimmte Bildbereiche einzeln betrachten und die Daten online auswerten. Die automatische Auswertung ist in diesem Portal noch nicht implementiert. Allerdings gibt es schon einen Server am Rechenzentrum der Universität Heidelberg – namens Biomedisa –, auf dem Wissenschaftler ihre bestehenden Datensätze weiterverarbeiten können. Diesen Server verwenden bereits viele Forscher und sind begeistert – schließlich brauchen sie teilweise nur noch einen Tag für die Auswertung der Daten und nicht mehr einen Monat.

Was tragen die einzelnen Verbundpartner zu dem Projekt bei?

Wissenschaftler von der Universität Heidelberg beschäftigen sich mit der automatisierten Datenauswertung. Denn eine besondere Herausforderung ist die sogenannte Segmentierung: Das ist normalerweise ein sehr aufwendiger, manueller Prozess. Für die neu entwickelten Algorithmen muss man zwar immer noch einzelne Bereiche per Hand auswählen. Der Algorithmus arbeitet die entsprechenden Strukturen dann aber eigenständig heraus. So einfach das klingt – all so etwas gibt es noch nicht. Forscher des Karlsruher Instituts für Technologie und des Helmholtz-Zentrums Geesthacht arbeiten außerdem an der Infrastruktur für die Tomografie und für die Visualisierung sowie Verwaltung der Daten. Und wir von der TU Darmstadt entwickeln zusammen mit anderen Forschergruppen die biologischen Fragestellungen.

Was gibt es in der Zukunft noch zu tun?

Wenn jemand die gewonnenen Daten für die eigene Forschung nutzen und einen Teil davon veröffentlichen möchte, muss klar sein: Wer hat welche Daten wie genutzt? Wir müssen deshalb in nächster Zeit über solche Nutzerdaten nachdenken. Ein weiterer wichtiger Schritt: Mehrere Benutzer sollen gleichzeitig mit denselben Daten auf der Onlineplattform arbeiten können. Das wäre vor allem für die Lehre und die wissenschaftliche Diskussionskultur eine große Bereicherung. 2019 wird eine erste Version der Onlineplattform einsatzbereit sein.


T. van de Kamp/P. Lösel

Dreidimensionale Modelle von Insekten – wie von diesem Rüsselkäfer – können Wissenschaftler auf einem gemeinsam genutzen Server weiterverarbeiten.


Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert dieses Projekt im Zeitraum von Juli 2016 bis Juni 2019 mit rund einer Million Euro.

Fördersumme: 989 544 Euro

Förderzeitraum: 01.07.2016 bis 30.06.2019

Förderkennzeichen: 05K16RDD, 05K16VHC, 05K16VKB

Beteiligte Institutionen: Technische Universität Darmstadt, Universität Heidelberg, Karlsruher Institut für Technologie

Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/bmbf/erforschung-kondensierter-materie/ueber-zweitausend-insektentomografien/