„Starke Kielwellen durch Protonenbündel“

Dirk Eidemüller

Das Bild zeigt eine Metallröhre, viele Kabel und einen Forscher.

Maximilien Brice/Julien Marius Ordan/CERN

Am Forschungszentrum CERN in Genf untersuchen Physiker nicht nur die Bausteine der Materie. Sie forschen auch an alternativen Konzepten für Teilchenbeschleuniger. Nach vierjähriger Entwicklungszeit vermelden die Wissenschaftler des Experiments AWAKE in der Zeitschrift „Nature“ nun einen Durchbruch: Erstmals setzen sie einen mit Protonen betriebenen Kielfeldbeschleuniger in Gang. In den ersten Testläufen erreichten Elektronen auf einer Strecke von gerade einmal zehn Metern eine Energie von zwei Gigaelektronenvolt. Im Interview erklärt Teammitglied Matthew Wing vom University College London, wie diese neue Art von Teilchenbeschleunigern funktioniert und welche spannenden Möglichkeiten sie bietet.

Welt der Physik: Sie arbeiten an einem neuartigen Beschleunigerkonzept. Können Sie das Prinzip dahinter kurz erläutern?

Matthew Wing: Wir schießen hochenergetische Protonenpulse durch ein Plasma – ein Gemisch aus positiv geladenen Atomkernen und elektrisch negativen Elektronen. Dies erzeugt – ähnlich wie bei Schiffen – eine Art „Kielwelle“, in der enorme elektrische Spannungen herrschen. Diese Spannungen sind sehr viel größer als bei herkömmlichen Beschleunigern, etwa dem LHC. Wenn man nun Elektronen in die Kielwelle einspeist, können diese auf der Welle „mitsurfen“ und werden dadurch effizient beschleunigt: Auf einer Strecke von gerade einmal zehn Metern lassen sich Elektronen auf eine Energie von zwei Gigaelektronenvolt bringen.

Das Bild zeigt den Forscher während er einen Vortrag hält.

Matthew Wing

Es gibt bereits Kielfeldbeschleuniger, die man mit Laserpulsen oder Elektronenstrahlen antreibt. Warum nutzen Sie dafür Protonen?

Unsere Resultate zeigen erstmals, dass sich Protonen effektiv für den Beschleunigungsvorgang einsetzen lassen. Das Entscheidende daran: Protonenpakete können eine sehr viel höhere Energie speichern als Laser- oder Elektronenpulse. Selbst energiereiche Laserpulse haben typischerweise nur eine Energie von einem Joule. Ein Protonenpaket an unserem Beschleuniger trägt rund vier Größenordnungen mehr Energie in sich, etwa 19 Kilojoule. Der Beschleuniger, an dem wir arbeiten, ist der letzte Vorbeschleuniger des großen Speicherrings LHC, an dem man unter anderem das Higgs-Teilchen entdeckte.

Welche Vorteile bringt das mit sich?

Dank der höheren Energie kann das Protonenbündel vergleichsweise lange Distanzen im Plasma zurücklegen und eine besonders starke Kielwelle erzeugen. Laser- oder Elektronenpulse können dagegen nur Strecken von rund einem Meter im Plasma zurücklegen, bevor der Kielwellen-Effekt nachlässt. Protonen eignen sich im Prinzip sogar für Strecken von bis zu einem Kilometer und noch darüber hinaus. Damit könnte man deutlich kompaktere und günstigere Teilchenbeschleuniger bauen als mit herkömmlicher Technologie möglich.

Mit welchen Anwendungen rechnen Sie für dieses neue Konzept? Es gibt ja sehr viel mehr Laserquellen als Protonenbeschleuniger auf der Welt.

Im Prinzip eignen sich Kielwellenbeschleuniger für eine ganze Reihe von Anwendungen – etwa für die Medizin, in der Strahlentherapie. Sie können den Elektronenstrahl aber auch nutzen, um einen Freie-Elektronen-Laser anzutreiben, der hochwertige Röntgenstrahlung für die Erforschung atomarer Prozesse bereitstellt. Unsere Kollaboration hier am CERN zielt natürlich am stärksten auf die Teilchenphysik, auch wenn sich einige unserer Erkenntnisse ebenso auf anderen Gebieten einsetzen lassen. Wir planen beispielsweise ein Experiment, in dem wir mit dem erzeugten hochenergetischen Elektronenstrahl gezielt nach Dunkler Materie suchen wollen. Man könnte den Elektronenstrahl aber auch mit Protonen kollidieren lassen, die im LHC kreisen. Am interessantesten für die Teilchenphysiker wäre ein Speicherring, in dem Elektronen und Protonen in kurzen schnell aufeinanderfolgenden Pulsen zusammenstoßen. Aber das ist noch Zukunftsmusik.

Wie sehen die Pläne für die nähere Zukunft aus?

Wir wollen die Zeit bis November noch nutzen, um möglichst viele Daten zu nehmen und den Elektronenstrahl – der hinten aus dem Plasma tritt – genauer zu charakterisieren. Denn bislang kennen wir nur seine Energie. Wir arbeiten gerade daran, die Parameter des erzeugten Strahls zu messen. Dazu müssen wir unter anderem noch die Anzahl der beschleunigten Elektronen bestimmen. Bei der Stabilität und Reproduzierbarkeit des Strahls sind wir schon ein gutes Stück vorangekommen. Ende des Jahres beginnt dann eine zweijährige Betriebspause am CERN, bei der verschiedene Komponenten gewartet und Experimente umgebaut werden. Ab 2021 wollen wir dann versuchen, qualitativ hochwertige Elektronenstrahlen zu erzeugen. Wenn alles gut geht, können wir ab der zweiten Hälfte des nächsten Jahrzehnts erste wissenschaftliche Experimente mit unserem Beschleuniger durchführen.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/nachrichten/2018/starke-kielwellen-durch-protonenbuendel/