„Man darf keine voreiligen Schlüsse ziehen“

Dirk Eidemüller

Zwei Männer vor einem Computerspiel

ICFO

Die Quantenphysik zeichnet ein kaum vorstellbares Bild der physikalischen Realität. Aber so erfolgreich sie auch ist: Noch sind nicht alle „Schlupflöcher“ geschlossen – und alternative Theorien zumindest denkbar. Eine ungeklärte Frage ist beispielsweise, inwieweit die an Quanten durchgeführten Messungen von anderen physikalischen Ereignissen abhängen. Eine Antwort suchte nun eine Forscherkollaboration mithilfe von mehr als 100 000 Freiwilligen: Sie nutzten den menschlichen Geist als Zufallszahlengenerator, um von rein physikalischen Objekten unabhängige Messungen zu ermöglichen. Im Interview berichtet Wenjamin Rosenfeld von der LMU München, wie er und seine Kollegen mit diesem Ansatz nun ein Schlupfloch geschlossen haben.

Welt der Physik: Sie haben gemeinsam mit Forschern von insgesamt zwölf Instituten am sogenannten „BIG Bell Test“ mitgewirkt. Welches Ziel steckt dahinter?

Ein Porträt des Wissenschaftlers Wenjamin Rosenfeld.

Wenjamin Rosenfeld

Wenjamin Rosenfeld: Bei Bell-Tests geht es um eine grundlegende Annahme zur physikalischen Realität. Benannt sind sie nach John Stewart Bell. Der Theoretiker stellte 1964 Gleichungen auf, mit denen sich ein alter philosophischer Streit zwischen Albert Einstein und Niels Bohr über die Bedeutung der Quantenphysik für unser Weltbild mit einem Schlag experimentell entscheiden ließ. In unserer Alltagsintuition – und auch in Einsteins wissenschaftlichem Weltbild sowie in der ganzen klassischen Physik – ist der „lokale Realismus“ vorherrschend.

Können Sie kurz erläutern, was man unter lokalem Realismus versteht?

Unter Realismus versteht man einfach gesagt, dass die Eigenschaften der physikalischen Objekte – wie beispielsweise Ort oder Geschwindigkeit – auch ohne Zutun vorliegen. Sie werden also nicht erst durch eine Messung oder Beobachtung ins Dasein gerufen. Der Mond ist da, auch wenn keiner hinschaut. Und lokal ist dieser Realismus, weil wir davon ausgehen, dass jedes Teilchen alle Informationen über seinen Zustand in sich trägt: Wenn wir bestimmte Eigenschaften an ihm messen, dann sollten diese Eigenschaften nicht von fernen Teilchen – die das beobachtete Teilchen nicht kausal beeinflussen können – abhängen. In der Quantenphysik scheint dieser lokale Realismus jedoch nicht mehr zu gelten, wie Niels Bohr im Streit mit Einstein immer wieder betont hat.

Was ist ein Bell-Test?

Bei einem Bell-Test untersucht man die wechselseitigen Korrelationen von zwei oder mehr quantenphysikalisch verschränkten Teilchen. In diesem Zustand sind die Teilchen ganz eng miteinander verknüpft, egal wie weit sie voneinander entfernt sind: Bei einer Messung an einem Teilchen nimmt das andere augenblicklich denselben Zustand ein – sie drehen sich etwa in die gleiche Richtung, wenn wir ihre Rotation messen. Dieses Phänomen lässt sich selbst dann beobachten, wenn kein Informationsfluss zwischen den beiden Teilchen möglich ist. Die Quantenphysik sagt sogar, dass die Rotation der beiden Teilchen vor der Messung überhaupt nicht eindeutig vorliegen muss. Beide Teilchen können in einem unbestimmten verschränkten Zustand gewesen sein. In Bell-Tests werden solche Korrelationen geprüft.

Und was untersuchen Sie im „Big Bell Test“?

Eine Einzelatomfalle, mit der sich Verschränkungszustände von Atomen mit Lichtteilchen nachweisen lassen.

Einzelatomfalle

Beim „Big Bell Test“ ging es darum, viele verschiedene und auf der ganzen Welt verteilte Experimente durchzuführen. Man vergleicht zum Beispiel die Rotationszustände – Physiker sprechen vom „Spin“ – oder auch die Energie von Paaren von Lichtteilchen. Andere Forschergruppen haben etwa die Schwingungen supraleitender Schaltkreise oder die Zustände von Atomwolken untersucht. Um möglichst viele unterschiedliche Experimente durchführen zu können, benötigen wir nun sehr viele Zufallszahlen. Denn die Entscheidung darüber, welche Eigenschaft an einem Teilchen gemessen wird, darf für das andere Teilchen nicht vorhersagbar sein. Die Zufallszahlen garantieren, dass wir viele unabhängige Messungen machen können, die kein vorhersehbares Muster aufweisen.

Wo kommt nun der menschliche Geist ins Spiel?

Wenn man davon ausgeht, dass der Mensch so etwas wie einen freien Willen hat, dann kann man diese menschliche Entscheidungsfreiheit nutzen, um mehr oder weniger unvorhersagbare Zahlenfolgen zu erzeugen. Mit diesen führen wir und die anderen Partner unserer Kollaboration dann die Experimente durch. Dass der menschliche Geist frei ist, ist natürlich auch nur eine Annahme und wird von einigen Psychologen oder Philosophen anders gesehen. Möglicherweise liefert er dennoch eine andere Art Unvorhersagbarkeit als die bisher benutzten künstlichen Quellen.

Wieso ist Unvorhersagbarkeit so wichtig?

Man kann sich diese Bell-Tests mit ihren potenziellen Schlupflöchern ein bisschen wie eine Gerichtsverhandlung vorstellen: Man darf keine voreiligen Schlüsse ziehen. Ist es etwa denkbar, dass wir bei der Bestätigung der Quantenphysik etwas übersehen haben? Das kann zum einen eine Unvollkommenheit der Messapparatur sein. Zum anderen können die Quellen der Zufallsentscheidungen – typischerweise spezielle Zufallszahlengeneratoren – zwar für uns unvorhersagbar erscheinen, doch in Wirklichkeit in Zusammenhang mit den Eigenschaften der Teilchen stehen. Das kann man leider nicht einfach ausschließen. Dann wäre eine lokal-realistische Beschreibung der Welt nicht widerlegt. Denn die quantenphysikalischen Korrelationen zwischen den verschränkten Teilchen gäbe es dann gar nicht. Stattdessen wären sie nur ein Artefakt von anderen, noch unbekannten Gesetzmäßigkeiten. Man hätte sozusagen einen Unschuldigen verurteilt.

Wie viele Freiwillige haben bei dem Projekt mitgemacht?

Benutzeroberfläche des Spiels, mit dem die Zufallszahlen gesammelt wurden.

Zufallszahlen per Computerspiel

Wir sind wirklich überrascht, wie viele Menschen sich für dieses ziemlich grundlegende Problem interessiert haben. Auch dank der guten Organisationsarbeit des Institute of Photonic Sciences in Barcelona, das das Projekt geleitet hat, haben am Stichtag – dem 30. November 2016 – weltweit über 100 000 Menschen teilgenommen. Es gab dazu ein kleines Computerspiel, das man auch auf dem Smartphone spielen konnte. Es ging darum, möglichst unvorhersagbare Zahlenfolgen einzutippen und sich dabei auch mit anderen zu messen. Diese Zahlenfolgen sind dann auf einem Server gelandet und haben eine Datenmenge von insgesamt 90 Millionen Bit ergeben. Dank dieser menschlich generierten Zufallszahlen konnten alle Labore dann unabhängige Bell-Messungen durchführen. Dabei wurde die Hypothese einer lokal-realistischen Beschreibung der Welt – wie erwartet – eindrucksvoll widerlegt.

Ist damit jetzt das letzte Wort gesprochen und die etablierte Quantentheorie alternativlos?

Ich würde es etwas vorsichtiger ausdrücken: Sie ist weiterhin extrem gut bestätigt und wir sehen keine plausible Alternative mit einer vergleichbaren Voraussagekraft. Von einem streng logischen Gesichtspunkt aus sind aber noch nicht alle Schlupflöcher geschlossen. Es gibt noch ein paar andere Schlupflöcher. Einzeln konnten diese zwar mit hoher Sicherheit geschlossen werden, aber nicht alle gleichzeitig in einem Experiment. Wir würden uns etwa eine möglichst große räumliche Trennung zwischen den menschlichen Zufallszahlengeneratoren und den Experimenten wünschen. Damit jede Beeinflussung ausgeschlossen ist und die Probanden gleichzeitig pro Versuch eine Sekunde für ihre Entscheidung haben, müssten sie sich beispielsweise auf dem Mond befinden. Aber das würde das Spiel vielleicht ein bisschen zu sehr auf die Spitze treiben.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/nachrichten/2018/man-darf-keine-voreiligen-schluesse-ziehen/