„Es gibt noch viele offene Fragen“

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Welt der Physik: Was versteht man in der Physik unter einem Modell?
Peter Mättig: Mithilfe von Modellen versuchen wir, die Natur mit mathematischen Methoden zu durchdringen und abzubilden. Sie spielen eine zentrale Rolle in der Physik, denn erst durch Modelle wird die Natur in gewisser Weise handhabbar. Modelle ermöglichen es uns, Vorhersagen zu treffen und zu verstehen, wie die Natur funktioniert. Doch ein Modell ist immer nur eine Annäherung, nie eine Eins-zu-eins-Abbildung der Natur. Mittlerweile gibt es zahlreiche Modelle, die in den verschiedenen Forschungsbereichen der Physik zum Einsatz kommen.
Eins davon ist das Standardmodell der Teilchenphysik, mit dem sich das Verhalten der kleinsten Teilchen beschreiben lässt. Welche Annahmen zur Natur stecken in diesem Modell?
Wir haben die Vorstellung, dass sich die gesamte sichtbare Materie im Universum aus einzelnen Grundbausteinen zusammensetzt – den sogenannten Elementarteilchen. Die Wechselwirkungen zwischen diesen elementaren Bausteinen werden über Austauschteilchen vermittelt. Die Gesamtheit der Materieteilchen – es sind insgesamt zwölf – und ihre Eigenschaften sowie die Kräfte, die zwischen ihnen wirken, werden im Standardmodell beschrieben.
Wie haben Physikerinnen und Physiker diese Vorstellung der kleinsten Teilchen entwickelt?
Nach der Entdeckung des Elektrons und des Photons um 1900 und der Entwicklung der Quantenmechanik in den 1920er-Jahren wurde mit der sogenannten Quantenelektrodynamik die Wechselwirkung von elektrisch geladenen Teilchen beschrieben. Zum Beispiel: Elektronen wechselwirken miteinander, indem sie Photonen austauschen. Mit diesem relativ einfachen und mathematisch konsistenten Modell ließ sich das Verhalten von elektrisch geladenen Teilchen sehr erfolgreich vorhersagen. Doch neben dieser elektromagnetischen Kraft gibt es noch weitere Kräfte: Die starke Kraft, die etwa dafür sorgt, dass Protonen und Neutronen im Innern von Atomen einen stabilen Kern bilden. Und die schwache Kraft, die zum Beispiel beim Zerfall von Neutronen auftritt. Ein der Quantenelektrodynamik ähnelndes Modell dafür zu entwickeln scheiterte lange Zeit. Stattdessen gab es damals viele verschiedene alternative Ideen und Modelle, die allerdings sehr kompliziert und letztlich nicht berechenbar waren.
Wann änderte sich das?
Der Durchbruch kam, als man in den 1960er-Jahren herausfand, dass sich Protonen und Neutronen aus noch kleineren Teilchen zusammensetzen – den sogenannten Quarks. Die Quarks ähneln wiederum Elektronen – denn auch sie sind punktförmig und elektrisch geladen. Ausgehend von dieser neuen Entdeckung konnte Anfang der 1970er-Jahre ein Modell entwickelt werden, das der Quantenelektrodynamik sehr ähnlich war. Sowohl für die starke Kraft als auch für die schwache Kraft postulierte man Austauschteilchen, die die gleiche Funktion erfüllten wie Photonen für die elektromagnetische Kraft. Dadurch hatte man die drei Kräfte auf ein gleiches Prinzip zurückgeführt. Und daraus ließ sich ein Modell entwickeln, was berechenbar war: das Standardmodell der Teilchenphysik.
Bislang wurde das Higgs-Teilchen noch gar nicht erwähnt. Welche Rolle spielt es im Standardmodell?
Um den Formalismus der Quantenelektrodynamik auf die starke und schwache Wechselwirkung anwenden zu können, mussten einige neuartige Probleme gelöst werden. Eines davon war, dass das Austauschteilchen der schwachen Wechselwirkung Masse besitzt. Das Photon ist hingegen masselos. Um das Modell mathematisch konsistent zu machen, postulierten Peter Higgs und auch Robert Brout und François Englert in den 1960er-Jahren ein weiteres Teilchen. Insbesondere ließ sich mit diesem sogenannten Higgs-Teilchen erklären, woher die Elementarteilchen ihre Masse erhalten. Lange Zeit war dieses Modell nur eine Hypothese, um es zu verifizieren, musste das Higgs-Teilchen gefunden werden. Erst im Jahr 2012 konnte das Higgs-Teilchen mit dem Large Hadron Collider – kurz LHC – am Forschungszentrum CERN nachgewiesen werden. Damit war das letzte Puzzleteil des Standardmodells gefunden.
War die Suche nach einem Modell, mit dem sich die sichtbare Materie und ihr Verhalten beschreiben lässt, abgeschlossen?
Es ist eigentlich immer so, dass mit jeder Lösung, die man findet, neue Probleme auftauchen. Beim Higgs-Teilchen ist das beispielsweise das sogenannte Hierarchieproblem: Um die Masse des Higgs-Teilchens korrekt zu berechnen, muss im Standardmodell ein mathematischer Kniff angewendet werden. Dazu werden in den Gleichungen des Modells sogenannte Korrekturterme eingeführt. Im Allgemeinen ist das zwar kein Problem, aber im Fall des Higgs-Teilchens sind diese Terme riesig, sie erscheinen „unnatürlich“. Daher suchen viele Physikerinnen und Physiker nach einem Modell, in dem derartige Korrekturterme sehr viel kleiner werden.
Gibt es solche Modelle denn?
Tatsächlich haben sich viele Physikerinnen und Physiker bereits vor der Entdeckung des Higgs-Teilchens über alternative Modelle Gedanken gemacht. Denn längst nicht alle haben an die Existenz des Teilchens geglaubt. Insbesondere in den 1990er- und 2000er-Jahren wurden zahlreiche konkurrierende Modelle entwickelt. Während es im Standardmodell zum Beispiel nur ein Higgs-Teilchen gibt, kommen in alternativen Modellen – wie etwa in der „Supersymmetrie“ – mehrere, unterschiedlich schwere Higgs-Teilchen vor. In anderen Modellen – wie in „Technicolor“ – setzt sich das Higgs-Teilchen aus mehreren kleineren Teilchen zusammen. In diesen Modellen fällt das Hierarchieproblem weg.
Wurden die Modelle weiterverfolgt, nachdem das Higgs-Teilchen schließlich gefunden wurde?
Als wir das Higgs-Teilchen entdeckt hatten, dachten wir zunächst: jetzt eröffnet sich uns eine völlig neue Welt und wir werden über das Higgs-Teilchen hinaus auch noch Hinweise auf physikalische Phänomene jenseits des Standardmodells finden. Aber diese Hoffnung hat sich zerschlagen. Es gab weder Hinweise auf ein zusammengesetztes Higgs-Teilchen, noch wurden weitere Higgs-Teilchen entdeckt. Bislang gibt es keine experimentellen Beobachtungen, die sich nicht mit dem Standardmodell erklären lassen.
Wenn sich doch alle Experimente mit dem Standardmodell hervorragend beschreiben lassen – warum geben sich die Physikerinnen und Physiker denn nicht mit dem Modell zufrieden?
Es gibt noch viele offene Fragen, die sich mit dem Standardmodell nicht erklären lassen: Niemand weiß beispielsweise, warum es im Standardmodell genau zwölf Materieteilchen gibt. Unsere Welt, also die stabile Materie, besteht eigentlich nur aus zwei Quarks, dem Up- und Down-Quark, aus denen sich Protonen und Neutronen zusammensetzen, dem Elektron und dem sogenannten Elektron-Neutrino. Diese vier Materieteilchen genügen für unser Leben. Aber es gibt eben noch acht andere Materieteilchen. Warum sind die da? Auch die drei Wechselwirkungen, die alle auf den gleichen Prinzipien beruhen, werfen Fragen auf: Gibt es eine Beziehung zwischen den drei Wechselwirkungen? Etwa eine Superkraft, aus der sich die drei Kräfte entwickelt haben? Und warum lässt sich die letzte der vier Grundkräfte – die Gravitation – nicht auch mit dem Standardmodell beschreiben? Auf diese Fragen haben wir bislang keine Antworten. Und dann gibt es noch weitere Dinge, die das Standardmodell nicht erklären kann, wie beispielsweise die Dunkle Materie und Dunkle Energie.
Wie sucht man nach Antworten auf diese Fragen?
Zum einen werden Teilchenbeschleuniger wie der LHC weiter ausgebaut. In Zukunft sollen dort Teilchenkollisionen mit einer sehr viel höheren Datenrate vermessen werden. Auch erreichen wir immer höhere Energien, bei denen theoretisch neue Teilchen entstehen könnten. Zum anderen gibt es auch weltweit viele kleinere Experimente, die mit neuen Messmethoden sehr seltene Prozesse untersuchen. Es gibt zahlreiche Ideen für Experimente, um bestimmte Parameter des Standardmodells zu überprüfen. Aber es gibt eben nicht – wie beispielsweise damals mit dem Higgs-Teilchen – die eine klare Vorhersage, die überprüft werden muss.
Wie gehen die Theoretikerinnen und Theoretiker damit um, dass es aktuell keine neuen Hinweise auf Physik jenseits des Standardmodells gibt?
Im Augenblick werden nur wenige Modelle entwickelt. Es gibt zwar viele verschiedene Ideen, aber viele wirken ad-hoc, sind limitiert und in keiner Weise mit dem vergleichbar, was wir Anfang der 2000er-Jahre hatten. Daher stehen aktuell nicht mehr spezifische Modelle im Fokus. Sowohl in der experimentellen Entwicklung als auch in der Theorie werden sogenannte modellunabhängige Ansätze immer wichtiger. Dabei wird in Experimenten nach Abweichungen vom Standardmodell gesucht, ohne ein spezielles Modell im Hinterkopf zu haben. Anschließend können Theoretikerinnen und Theoretiker überprüfen, ob diese Messung mit ihrem Modell übereinstimmt oder nicht.
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Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/bausteine/elementarteilchen-es-gibt-noch-viele-offene-fragen/