Künstliche Muskeln aus verdrillten Fasern

Jan Oliver Löfken

Mikroskopaufnahme, auf der ein spiralförmiger Strang zu sehen ist

P. Anikeeva/MIT

In jedem Menschen ermöglichen 656 Muskeln eine Vielzahl von Bewegungen. In Robotern übernehmen bislang Hydraulikmodule und Elektromotoren diese Aufgabe – doch weltweit arbeiten Wissenschaftler bereits an künstlichen Muskeln. In der Zeitschrift „Science“ präsentieren zwei Forschergruppen jetzt neue Konzepte für solche synthetischen Muskeln. Alle Prototypen basieren auf verdrillten Fasern aus unterschiedlichen Materialien und lassen sich mit Wärme, elektrischen Pulsen oder Alkoholdämpfen antreiben. Bezogen auf ihr Gewicht üben die Fasern dabei teils deutlich größere Kräfte aus als menschliche Muskeln.

„Wir fertigten unsere künstlichen Muskeln aus einem Sandwich aus zwei Materialien“, sagt Polina Anikeeva vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge in den USA. Gemeinsam mit ihren Kollegen legte die Forscherin zwei verschiedene Kunststoffe – Polyethylen und ein Olefin-Copolymer – übereinander und zog daraus nur etwa ein fünftel Millimeter dünne Fäden. Ohne Zuglast verdrillten sich diese Fasern spontan zu einer Spirale. Heizte das Team den Materialmix mit einem Heizluftfön um etwa zehn Grad auf, zog sich die Spirale schnell zusammen. Verantwortlich dafür ist die unterschiedliche Wärmeausdehnung der beiden Kunststoffe. Eine einzige Faser hob durch das Zusammenziehen mühelos ein Gewicht von einem Gramm an. Das entspricht etwa dem 650-fachen ihres Eigengewichts.

Grafik, die einen spiralförmigen Muskel einmal mit und einmal ohne Ummantelung zeigt, und darüber hinaus sowohl den Querschnitt des Muskels als auch eine Vergrößerung abbildet.

Muskel im Mantel

Ein anderes Konzept verfolgt die Gruppe um Ray Baughman von der University of Texas in Dallas: Die Forscher ummantelten verdrillte Nylonfäden sowie Seide- und Bambusfasern mit verschiedenen Materialien. „Dieser Mantel verleiht den Muskeln eine höhere Energiedichte, damit sie pro Zyklus eine größere Arbeit verrichten können“, erläutert Baughman. So dehnte sich eine Hülle aus Kohlenstoffnanoröhrchen aus, wenn die Wissenschaftler eine elektrische Spannung von einigen Volt anlegten. Dieses Anschwellen führte dazu, dass sich die verdrillte Faser verlängerte. Ohne Spannung zog sie sich wieder zusammen.

Die gleiche reversible Dehnung und Kontraktion ließ sich auch mit einem Mantel aus Polyurethan erreichen. Hierzu verwendete das Team allerdings keine elektrische Spannung, sondern Wärme: Auf 97 Grad Celsius erhitzt, schwoll der Kunststoff an, beim Abkühlen schrumpfte er wieder zusammen. Eine Hülle aus einem speziellen Copolymer – bestehend aus Polyethylenoxid, Tetrafluoroethylen und Sulfonylfluoridvinylether – reagierte dagegen in einer Atmosphäre aus Ethanoldämpfen mit dem gewünschten Anschwellen. Der kräftigste Muskel aus einer mit Kohlenstoffnanoröhrchen ummantelten Nylonfaser erreichte eine Zugleistung von knapp zwei Watt pro Gramm. Das übertrifft menschliche Muskeln um das Vierzigfache.

Reif für den Einsatz in Robotern oder Prothesen für Gliedmaßen sind solche künstlichen Muskeln noch nicht. Erst zu Hunderten oder Tausenden gebündelt könnten die Fasern ausreichend starke Zugkräfte aufbringen. Zudem müssen sie noch ihre Stabilität über Abertausende Kontraktions- und Dehnungszyklen unter Beweis stellen.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/materie/nachrichten/2019/kuenstliche-muskeln-aus-verdrillten-fasern/