Jahresrückblick 2020

Kim Hermann

Die Simulation zeigt einen schwarzen Kreis in der Mitte und acht helle Punkte, die einen Halbkreis um das Zentrum formen.

ESO/M. Kornmesser

Dieses Jahr gingen Physiker kleinen und großen Rätseln unseres Universums auf den Grund – vom überraschenden Abdunkeln eines Roten Überriesens über Prozesse im Inneren unserer Sonne bis hin zum Zentrum unserer Galaxis. Doch auch winzige Strukturen wie die des neuartigen Coronavirus wurden genau unter die Lupe genommen. Hier blicken wir auf diese und andere entscheidende Entdeckungen aus dem Jahr 2020 zurück.

Das Jahr begann mit einer sensationellen Himmelsbeobachtung: Beteigeuze, der linke Schulterstern des Sternbilds Orion, verlor seit Oktober 2019 immer stärker an Leuchtkraft. Im Februar verdunkelte sich der etwa 600 Lichtjahre entferne Stern schließlich auf lediglich 40 Prozent seiner durchschnittlichen Helligkeit – und leuchtete damit so schwach wie nie zuvor beobachtet. Viele Hobbyastronomen spekulierten bereits Anfang des Jahres über die möglichen Ursachen für das überraschende Abdunkeln. Einige sahen darin einen Hinweis auf eine bevorstehende Explosion des Sterns – eine sogenannte Supernova.

Die Aufnahme zeigt Beteigeuze als einen leuchtenden Kreis. Die Helligkeit nimmt nach außen ab. Zum Vergleich sind die Orbits der Planeten unseres Sonnensystems als Kreise um das Zentrum von Beteigeuze eingezeichnet. Während die Orbits von Merkur, Venus, der Erde, Mars und Jupiter noch im Stern liegen, reicht lediglich der Orbit von Saturn bis über die Grenzen von Beteigeuze hinaus.

Größenvergleich zwischen Beteigeuze und unserem Sonnensystem

„Als Roter Überriese ist Beteigeuze definitiv ein möglicher Kandidat für eine Supernova“, kommentierte der Astrophysiker Hans-Thomas Janka vom Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching die Debatte im Interview mit Welt der Physik. Allerdings deute das Abdunkeln des Sterns nicht auf eine baldige Explosion hin, stellte Janka klar. Vielmehr ließe sich die Beobachtung durch ein anderes Phänomen erklären, denn Beteigeuze stößt regelmäßig Gas aus seiner Hülle ins Weltall aus. Diese Gaswolke erkaltet daraufhin und schirmt die Strahlung des Sterns so ab, dass er von der Erde aus dunkler erscheint. Aufnahmen des Hubble-Weltraumteleskops lieferten im August schließlich den finalen Beweis: Sie zeigten eine besonders große Gaswolke, die den Roten Überriesen umgab. Und mittlerweile ist Beteigeuze wieder in seiner vollen Leuchtkraft am Nachthimmel zu sehen.

Dem Rätsel der Antimaterie auf der Spur

Einem deutlich grundlegenderen Problem – dem bislang ungelösten Rätsel um die Antimaterie – gingen Wissenschaftler am Forschungszentrum CERN auf den Grund: Kurz nach dem Urknall sollten Materie und Antimaterie eigentlich zu gleichen Teilen entstanden sein. Heute enthält das Universum aber offensichtlich nur noch Materie, aus der Sterne, Planeten und auch wir selbst bestehen. Den Grund für dieses Ungleichgewicht kennen Physiker bislang noch nicht.

Im ALPHA-Experiment suchen Forscher daher nach Unterschieden zwischen Materie und Antimaterie, mit denen sich das Ungleichgewicht möglicherweise erklären lässt. Dazu untersuchten sie Antiwasserstoff, der sich aus den Antiteilchen eines Elektrons und eines Protons zusammensetzt. Doch im Februar bestätigten die Forscher erneut die bisherigen Ergebnisse: Es lässt sich kein Unterschied zwischen Wasserstoff und Antiwasserstoff feststellen.

Beiträge zur Bekämpfung der Corona-Pandemie

Modell des Virus, dargestellt als eine graue Kugel mit roten Stäbchen.

Coronavirus SARS-CoV-2

Schon wenige Tage später begann sich nicht nur unser Alltag stark zu verändern. Auch der reguläre Betrieb an wissenschaftlichen Einrichtungen wie dem Forschungszentrum CERN wurde in den darauffolgenden Wochen heruntergefahren – als Reaktion auf die weltweite COVID-19-Pandemie. Doch das galt nicht für alle Forschungsanlagen. Denn auf der Suche nach einem geeigneten Wirkstoff, versuchten weltweit Wissenschaftler unter anderem das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 mit verschiedenen Verfahren genau zu untersuchen. „Jedes dieser Verfahren besitzt seine eigenen Vor- und Nachteile. Das Gute ist aber, dass wir diese Verfahren miteinander kombinieren können und dadurch ein detaillierteres Bild erhalten“, berichtet Dieter Willibold von der Universität Düsseldorf und dem Forschungszentrum Jülich im Interview.

So machen beispielsweise sehr intensive Röntgenlaser die Struktur der einzelnen Virusbestandteile mit nahezu atomarer Genauigkeit sichtbar. „Das erleichtert die Suche nach passenden Wirkstoffen ungemein“, erklärte Manfred Weiss vom Helmholtz Zentrum Berlin im Interview. Neben Röntgenstrahlen kommen aber auch Neutronenstrahlen zum Einsatz. „Beim Coronavirus ist vor allem die Kontaktstelle an seiner Oberfläche von Interesse, mit dem das Virus an den Rezeptor einer menschlichen Zelle koppelt“, berichtete Wibke Lohstroh von der Technischen Universität München.

Da es seither wichtig ist, möglichst viel zu Hause zu bleiben, veröffentlichte die Redaktion von Welt der Physik im April eine neue Rubrik. In Physik für zu Hause präsentieren wir vielfältige, digitale Angebote – von virtuellen Touren durch Forschungseinrichtungen und Museen über Experimente für zu Hause bis hin zu Online-Astronomie-Projekten zum Mitmachen. So kann in dem Projekt Radio Galaxy Zoo beispielsweise jeder zum Astronomen werden und echte Beobachtungsdaten der Teleskopanlage LOFAR sortieren – und dabei vielleicht sogar etwas Neues entdecken.

Das Zentrum der Milchstraße

Eine aufwendige Datenanalyse war auch für die Entdeckung von Reinhard Genzel vom Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Garching sowie der University of California in Berkeley und Andrea Ghez von der University of California in Los Angeles notwendig. Schon seit Anfang der 1990er-Jahre beobachten die beiden Forscher gemeinsam mit ihren Kollegen die Positionen der hellsten Sterne in der Nähe des galaktischen Zentrums. Offenbar bewegen sich die Gestirne mit einem hohen Tempo auf stabilen, aber extrem elliptischen Umlaufbahnen um das Zentrum der Milchstraße. Daraus schlossen die Astronomen, dass sich ihre Beobachtungen nur durch ein äußerst massereiches, unsichtbares Objekt erklären lassen – ein supermassereiches Schwarzes Loch.

Um einen zentralen Punkt winden sich ineinander verschobene Ellipsen, sodass eine Rosettenform entsteht.

Rosettenbahn des Sterns S2

Daraufhin untersuchten Wissenschaftler in den vergangenen Jahren das zentrale Schwarze Loch mit dem Namen Sagittarius A* immer genauer. Vor allem die elliptische Umlaufbahn eines Sterns – mit der Bezeichnung S2 – war besonders interessant, da er sich dem Schwarzen Loch auf seiner Bahn stärker nähert als alle anderen Sterne. Mit dem Instrument GRAVITY des Very Large Teleskopes in Chile gelang es im April dieses Jahres schließlich, die verdrehte Ellipsenbahn des Sterns sichtbar zu machen. „Der genaue Verlauf dieser Umlaufbahnen lässt sich zwar mit Albert Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie berechnen, doch die Auflösung der bisherigen Aufnahmen reichte nicht aus, um diese Vorhersagen experimentell zu überprüfen“, kommentierte Christan Straubmeier die Entdeckung im Interview. „Jetzt haben wir endlich Gewissheit erlangt“ – und Einsteins Theorie wurde abermals bestätigt.

Für ihre Pionierarbeit, die den bislang überzeugendsten Beweis für ein Schwarzes Loch im Zentrum der Milchstraße lieferte, wurden Genzel und Ghez mit einer Hälfte des diesjährigen Nobelpreises für Physik geehrt. Zur anderen Hälfte ging der Nobelpreis an Roger Penrose, der die mathematischen Werkzeuge entwickelte, mit denen sich unter anderem Schwarze Löcher als Folge der Allgemeinen Relativitätstheorie erforschen lassen.

Ein weiteres Phänomen, das Albert Einstein bereits vor über hundert Jahren vorhersagte, sind Gravitationswellen. Die Streckungen und Stauchungen von Raum und Zeit können beispielsweise entstehen, wenn sich zwei Schwarze Löcher einander annähern und schließlich zu einem noch massiveren Objekt verschmelzen. Nachdem im Jahr 2015 das erste Mal Gravitationswellen beobachtet wurden, berichteten Astronomen in diesem September von einem Signal, das in doppelter Hinsicht neue Rekorde aufstellte: Die Quelle ist mit sieben Milliarden Lichtjahren nicht nur so weit entfernt wie keine zuvor. Es handelt sich mit 142 Sonnenmassen auch um die bislang massereichste Quelle für Gravitationswellen, die bei der Verschmelzung zweier Schwarzer Löcher entstand.

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Supraleiter und Sonnenneutrinos

Bereits in den letzten beiden Jahresrückblicken berichteten wir über Supraleiter, in denen Strom widerstandslos fließen kann. Diese Materialien versprechen zwar zahlreiche Anwendungen, doch die supraleitenden Eigenschaften zeigen sich in der Regel erst bei sehr niedrigen Temperaturen. Im Oktober dieses Jahres berichteten Wissenschaftler schließlich, den lang ersehnten, ersten Supraleiter bei Raumtemperatur hergestellt zu haben: Die Probe aus Wasserstoff, Schwefel und Kohlenstoff sei bereits bei 15 Grad Celsius supraleitend. Allerdings war auch hier ein enorm hoher Druck von 267 Gigapascal – das entspricht dem 2,5-millionenfachen des Atmosphärendrucks – nötig. Zukünftig hoffen die Forscher mit anderen Zusammensetzungen neue Rekorde bei niedrigerem Druck zu erreichen.

Anmerkung der Redaktion: Die Veröffentlichung, auf die wir uns hier beziehen, wurde vom Fachjournal „Nature“ im September 2022 zurückgezogen. Grund hierfür waren Bedenken bezüglich der Auswertung und Interpretation der Daten.

Ein anderer Prozess, der auch bei enorm hohen Drücken stattfindet, ist die Kernfusion im Inneren von Sternen wie unserer Sonne. Indem je zwei Wasserstoffkerne in verschiedenen Fusionsreaktionen zu Helium verschmelzen, gewinnt die Sonne ihre Energie. Rund 99 Prozent der Sonnenenergie entstammt dieser Hauptfusionsreaktion wobei als Nebenprodukt auch Neutrinos entstehen. Diese elektrisch neutralen und nahezu masselosen Elementarteilchen ließen sich bereits mithilfe von Detektoren auf der Erde nachweisen.

Kugelförmige Struktur von innen, an der Innenwand zahlreiche kleine Kugeln.

Blick in den Borexino-Detektor

Das restliche Prozent der Sonnenenergie soll dagegen auf eine alternative Fusionsreaktion zurückgehen, bei der auch Neutrinos freigesetzt werden. Diese Neutrinos treten allerdings viel seltener auf als jene der Hauptfusionsreaktion. Deswegen war bislang ein direkter Nachweis noch nicht geglückt, doch im November verkündete ein internationales Forscherteam den Durchbruch: Mit dem Experiment Borexino, das sich tief im Gestein des italienischen Gran-Sasso-Massivs befindet, gelang es den Wissenschaftlern die seltenen Neutrinos zu beobachten.

Rätselhaftes Signal im Untergrund

Neben seltenen Neutrinos hoffen Forscher in den Untergrundlaboren des Gran-Sasso-Massivs auch, andere Teilchen nachzuweisen. Mit dem Detektor XENON1T suchen sie nach sogenannten WIMPS – „Weakly Interacting Massive Particles“, also schwach wechselwirkenden massiven Teilchen. Diese Teilchen sind vielversprechende Kandidaten für Dunkle Materie. Nach jahrelangen Messungen und aufwendigen Analysen haben die Forscher im Juni dieses Jahres schließlich ein überraschendes Signal in den Daten identifiziert.

Ob es sich bei dem Signal tatsächlich um ein neuartiges Teilchen handelt oder doch nur um eine Verunreinigung, die ein falsches Signal vortäuscht, ist bislang unklar, wie Manfred Lindner vom Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg im Interview berichtete. „Mittlerweile ist der deutlich größere Detektor XENONnT aufgebaut und soll bald mit den Messungen beginnen. Er wird nochmals deutlich empfindlicher sein und uns dann bessere Hinweise geben, welchen Ursprung dieses Signal hat.“

Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/jahresrueckblicke/jahresrueckblick-2020/