„Hochenergetische Neutrinos aus der Milchstraße“

Dirk Eidemüller

Bläuliches horizontal verlaufendes Band mit zahlreichen Leuchtpunkten auf dunklem Hintergrund

IceCube Collaboration/U.S. National Science Foundation (Lily Le & Shawn Johnson)/ESO (S. Brunier)

Ständig prasseln hochenergetische Teilchen aus allen Richtungen auf die Erdatmosphäre. Dazu gehören auch Neutrinos – elektrisch neutrale und nahezu masselose Elementarteilchen, deren Herkunft noch zahlreiche Fragen aufwirft. Unter anderem suchen Forscherinnen und Forscher mit dem IceCube-Observatorium am Südpol nach solchen hochenergetischen Neutrinos und deren Ursprung. Nachdem sie im vergangenen Jahr bereits Neutrinos aus einer nahegelegenen Galaxie nachgewiesen haben, wurden nun erstmals hochenergetische Neutrinos aus unserer Milchstraße beobachtet. Wie es zu dieser Entdeckung kam, erzählt Klaus Helbing von der Bergischen Universität Wuppertal im Interview mit Welt der Physik.

Welt der Physik: Was hat Ihre neue Analyse der von IceCube gesammelten Daten ergeben?

Klaus Helbing

Klaus Helbing

Klaus Helbing: In unserer neuen Studie haben wir rund 60 000 Neutrino-Ereignisse aus den letzten zehn Jahren Messzeit von IceCube analysiert. Dabei haben wir untersucht, ob diese Neutrinos aus der Milchstraße stammen oder aus fernen Galaxien. Wir haben mit IceCube bereits viele sehr hochenergetische Neutrinos aus extragalaktischen Quellen nachweisen können, hatten aber bislang keine Hinweise auf Neutrinos aus der Milchstraße gefunden. In der neuen Studie ist uns das jetzt gelungen. Wir haben erste Anzeichen, dass die Zentralregion der Milchstraße größere Beiträge liefert als der Randbereich der galaktischen Scheibe. Allerdings ist die räumliche Auflösung noch viel zu grob, um einzelne Quellen auszumachen.

Wieso konnte IceCube bislang noch keine Neutrinos aus der Milchstraße nachweisen?

IceCube hat ja bereits hochenergetische Neutrinos aus fernen Galaxien nachgewiesen, andere Detektoren wie etwa Borexino in Italien wiederum niederenergetische Neutrinos aus der Sonne. IceCube ist nun ein besonderer Detektor, der vor allem für die Untersuchung sehr hochenergetischer Neutrinos gebaut wurde. Diese stammen vor allem aus aktiven Galaxienkernen, also supermassereichen Schwarzen Löchern im Zentrum von Galaxien. Für die Analyse von Neutrinos aus der Milchstraße war IceCube gar nicht gedacht. Das stand so nicht im „Pflichtenheft“, als die ganze Anlage konzipiert wurde. Die Hauptaufgabe von IceCube – und da ist dieser Detektor einzigartig – ist das Suchen nach sehr hochenergetischen Neutrinos aus den Tiefen des Alls weit jenseits unserer eigenen Galaxis, was uns ja auch schon gelungen ist. Umso interessanter ist es, dass wir nun auch noch hochenergetische Neutrinos aus unserer eigenen Galaxie finden konnten.

Gab es auch Überraschungen in den Daten?

Ein Laborgebäude auf eisigem Untergrund

IceCube

Wir hatten eigentlich erwartet, ein stärkeres Signal zu sehen. Aber die Milchstraße scheint bezüglich der Emission von Neutrinos eine relativ ruhige Galaxie zu sein. Das hat unsere Analyse noch schwieriger gemacht. Dass wir überhaupt etwas in den Daten gefunden haben, verdanken wir dem Einsatz neuester Analysetechniken. Dazu gehören insbesondere Methoden des Maschinellen Lernens – also komplexe Computeralgorithmen, mit denen wir schwierig zu entdeckende Muster in den Daten finden konnten und die auch die genauere Bestimmung von Richtung und Energie ermöglicht haben.

Kennen Sie auch die Quellen der neu entdeckten Neutrinos aus der Milchstraße?

Wir können noch keine einzelnen Objekte in der Milchstraße angeben, wie bestimmte Pulsare oder Überreste von Supernovae, die theoretisch als Quellen für hochenergetische Strahlung infrage kommen. Aber wir arbeiten eng mit Kolleginnen und Kollegen aus der Röntgen- und Gamma-Astronomie zusammen. Denn sie können uns Hinweise geben, wo in der Milchstraße besonders hochenergetische Prozesse stattfinden, bei denen theoretisch auch Neutrinos entstehen können.

Bei welchen Prozessen könnten die Neutrinos denn entstehen?

Solche hochenergetischen Neutrinos entstehen nicht einfach bei kernphysikalischen Prozessen, wie sie etwa in der Sonne stattfinden. Um hochenergetische Neutrinos zu erzeugen, die tausend- und millionenfach höhere Energien haben als typische Prozesse in Atomkernen, müssen zunächst Teilchen bei heftigen astrophysikalischen Ereignissen beschleunigt werden – wie etwa in den riesigen, auseinanderströmenden Gaswolken nach einer Supernova. Laut den theoretischen Berechnungen entwickeln sich dort insbesondere Schockfronten, die als Produktionsorte von hochenergetischen Neutrinos infrage kommen.

Was passiert dort genau?

In den starken elektromagnetischen Feldern, die sich im expandierenden Plasma von Überresten einer Supernova befinden, können geladene Teilchen auf sehr hohe Energien beschleunigt werden. Da Neutrinos nicht elektrisch geladen sind, entstehen sie quasi auf Umwegen: Zunächst werden Protonen oder schwere Atomkerne im Plasma stark beschleunigt. Und wenn diese dann auf Atomkerne der interstellaren Materie treffen, werden unter anderem sehr energiereiche Neutrinos freigesetzt.

Leuchtende Spiralgalaxie mit einem vergrößerten Ausschnitt, der blaue Leuchtpunkte zeigt.

Neutrinos aus der Milchstraße

Wie könnte die Suche nach Neutrinos zukünftig weitergehen?

Wir sind sehr gespannt, wie sich die Computeralgorithmen weiterentwickeln werden. Denn zusammen mit der Installation neuer Detektorkomponenten bei IceCube in den nächsten Jahren könnte die Untersuchung von Neutrinos aus der Milchstraße dann ein spannendes – und eigentlich ungeplantes – Aufgabengebiet von IceCube werden.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/universum/icecube-hochenergetische-neutrinos-aus-der-milchstrasse/