„Das System folgt einer universellen Dynamik“

Dirk Eidemüller

Systeme aus vielen Quantenteilchen zeigen ein sehr komplexes Verhalten – vor allem, wenn sie sich fern ihres Gleichgewichtszustands befinden. In der Zeitschrift „Nature“ berichten nun mehrere Gruppen, dass sich in solchen Quantensystemen dennoch universelle Regeln entdecken lassen. Welt der Physik sprach darüber mit Jörg Schmiedmayer von der Technischen Universität Wien.

Foto von Jörg Schmiedmayer

Jörg Schmiedmayer

Welt der Physik: Ihre Gruppe arbeitet mit sogenannten Bose-Einstein-Kondensaten. Was sind das für Materiezustände?

Jörg Schmiedmayer: Bei Temperaturen ganz knapp über dem absoluten Nullpunkt können sich Atome zu einem neuartigen Aggregatzustand zusammenfinden. Diese nach Albert Einstein und dem indischen Physiker Satyendranath Bose benannten Gase sind eigenartige Quantenzustände, bei denen sich alle Teilchen im selben Quantenzustand befinden. Sie „kondensieren“ unterhalb von einem millionstel Grad über dem absoluten Nullpunkt zu einem besonderen Gas, bei dem die Atome allesamt eine einzige Wellenfunktion annehmen und nicht mehr voneinander unterscheidbar sind. Solche Bose-Einstein-Kondensate werden weltweit von vielen Arbeitsgruppen untersucht, weil man an ihnen viele der ungewöhnlichen Eigenschaften der Quantenwelt untersuchen kann.

Sie untersuchen Kondensate, die sich fernab des Gleichgewichts befinden. Was bedeutet das genau?

Die Physik ist eigentlich die Lehre von der Dynamik der Körper. Wir kennen heute im Mikro- und im Makrokosmos die grundlegenden Gesetze, nach denen sich Körper verhalten. In den meisten Fällen betrachtet man allerdings Systeme, die sich mehr oder weniger im Gleichgewicht befinden. Das Besondere an unserem System ist nun, dass wir einen Zustand herstellen, der sich weit außerhalb des Gleichgewichts befindet. Das bewerkstelligen wir, indem wir zunächst eine Wolke aus kalten Atomen – die noch ein klein wenig wärmer ist als die Kondensationstemperatur – in eine Falle sperren. Diese „eindimensionale“ Falle ist einige Hundert Mikrometer lang, aber nur hundert Nanometer breit. Dann öffnen wir die Falle für ganz kurze Zeit in seitlicher Richtung. Dadurch können alle Atome, die einen seitlichen Bewegungsimpuls haben, aus der Falle entweichen.

Was erreichen Sie dadurch?

Übrig bleiben nun die Atome, die entweder schon sehr ruhig waren oder deren Impuls in die lange Richtung der Falle zeigte. Auf diese Weise erzielen wir einen doppelten Effekt: Einerseits sinkt die Temperatur des Systems unter die Kondensationstemperatur, weil vor allem schnelle – also warme – Teilchen entweichen. Und andererseits bringen wir dadurch ein starkes Ungleichgewicht ins System, weil die Teilchen sehr verschiedene Impulse aufweisen. Wir wissen aber, dass bei der Kondensation alle Teilchen denselben Quantenzustand annehmen müssen. Deshalb lässt sich an diesem System besonders gut der Übergang vom Nichtgleichgewicht zu einem Gleichgewicht studieren.

Atomchip mit magnetischer Falle

Atomchip mit magnetischer Falle

Eine Gruppe von theoretischen Physikern hat schon vor ein paar Jahren vorhergesagt, dass sich bei einem solchen Übergang ein universelles Verhalten beobachten lässt. Wie ist das bei Ihrem System?

Die Theoretiker um Jürgen Berges und Thomas Gasenzer haben eine ganz allgemeine Analyse präsentiert, derzufolge Nichtgleichgewichtssysteme sich unabhängig von ihren spezifischen Anfangsbedingungen auf eine bestimmte Weise entwickeln. Es ist also völlig gleich, ob wir mehr oder weniger Atome in unserem Gas haben, ob die Temperatur etwas höher oder niedriger ist oder wie die Impulsverteilung im Nichtgleichgewicht aussieht: Die Entwicklung folgt einer bestimmten Gesetzmäßigkeit. Das konnten wir an unserem System eindrucksvoll nachweisen. Man könnte sagen, unser System folgt einer universellen Dynamik. Die Art und Weise, wie Vielteilchensysteme ihre Vergangenheit „vergessen“ und einem Gleichgewichtszustand zustreben, ist also für ganz unterschiedliche Systeme verblüffend ähnlich.

Ließ sich diese universelle Dynamik auch in anderen Systemen nachweisen?

Parallel zu unseren Arbeiten hat auch eine Forschergruppe in Heidelberg und ein Team im englischen Cambridge dieses Verhalten untersucht. Das Spannende daran ist, dass alle mit unterschiedlichen Systemen gearbeitet haben und dennoch überall diese universelle Dynamik zu sehen ist. Die Heidelberger haben nicht wie wir die Impulse der Teilchen gemessen, sondern den Spin – also die kleinen „Kompassnadeln“ der Atome – und dessen örtliche Verteilung. Die Forscher in Cambridge haben mit der Kompression von Bose-Einstein-Kondensaten gearbeitet. Bei allen diesen Systemen ist eine Universalität in der Dynamik zu beobachten, obwohl die Systeme an sich ganz unterschiedlich sind.

Welche Anwendungen sehen Sie für diese Art von Forschung?

Es geht bei unseren Experimenten um ein sehr grundsätzliches Verständnis davon, wie sich physikalische Systeme aus vielen Teilchen entwickeln, die fernab von ihrem Gleichgewichtszustand sind. An industrielle Anwendungen denken wir derzeit noch nicht. Aber in ganz anderer Richtung könnte sich eine Möglichkeit auftun: Wir wissen, dass das Universum kurz nach dem Urknall von einer unglaublich dichten und heißen Materiesuppe erfüllt war – zum Teil auch von völlig unbekannten Elementarteilchen. Es ist bislang auch in den stärksten Teilchenbeschleunigern nicht gelungen, diese Teilchen zu erzeugen. Sehr wahrscheinlich wird das sogar praktisch niemals möglich sein. Nun war die Materie kurz nach dem Urknall ebenfalls nicht im Gleichgewicht. Sie muss aber in irgendeiner Art von Nichtgleichgewichtsquantenzustand gewesen sein. Wenn wir mit unseren Experimenten mehr über die allgemeine Dynamik solcher Quantenzustände herausfinden, wird uns das mit etwas Glück auch neue Einsichten über die exotischen Materieformen kurz nach dem Urknall liefern.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/nachrichten/2018/das-system-folgt-einer-universellen-dynamik/