„Es können nicht beide recht haben“

Manuel Kreye

Eine Münze, die in mehreren Phasen ihres Wurfs gezeigt wird.

Dereje Belachew/Thinkstock

Bereits in den 1920er-Jahren entwickelten Physiker die Grundlagen der Quantenmechanik. Mit dieser Theorie lässt sich das Verhalten von winzigen Partikeln – wie Atomen oder Elektronen – sehr erfolgreich beschreiben. Aus diesen Teilchen zusammengesetzte Materie gehorcht ab einer gewissen Größe allerdings nicht mehr den Regeln der Quantenmechanik. Um die Grenze zwischen Quanten- und Alltagswelt besser zu verstehen, entwickelten Physiker nun ein Gedankenexperiment, das sie kürzlich in der Fachzeitschrift „Nature Communications“ vorstellten. Im Interview mit Welt der Physik erzählt Renato Renner von der ETH Zürich, wie er und seine Kollegen mit diesem theoretischen Experiment einen Widerspruch aufdeckten.

Welt der Physik: Wie unterscheidet sich die uns bekannte Alltagswelt von der Quantenwelt?

Renato Renner: Das lässt sich am besten am Beispiel eines einzelnen Teilchens veranschaulichen: Der Zustand eines Teilchens, das sich mit der klassischen Mechanik beschreiben lässt, ist durch seinen Ort und seine Geschwindigkeit gegeben. Diese beiden Informationen brauche ich, um das zukünftige Verhalten des Teilchens vorherzusagen. In der Quantenmechanik braucht man dagegen sehr viel mehr Informationen, um den Zustand eines Teilchens zu bestimmen. Außerdem ist es nicht möglich, den exakten Ort eines Teilchens anzugeben. Stattdessen weiß man nur, mit welcher Wahrscheinlichkeit sich das Teilchen an einem bestimmten Ort befindet.

Wie kann man sich das vorstellen? Ist das Teilchen gleichzeitig an mehreren Orten oder weiß man es einfach nicht besser?

Porträt des Wissenschaftlers Renato Renner

Renato Renner

Ich habe den Ausdruck „es ist an mehreren Orten gleichzeitig“ nicht so gern, denn es ist auch gleichzeitig nirgends. Und selbst wenn ich alles über das Teilchen wüsste, könnte ich nur sagen, dass es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit an einem bestimmten Ort ist. In der Quantenmechanik ist diese Unsicherheit fundamental, im Unterschied zur klassischen Physik. Denn erst wenn ich das Teilchen beobachte – also messe –, weiß ich, an welcher Position es sich genau aufhält. Vorher befindet es sich in einer sogenannten Superposition von verschiedenen Zuständen – in diesem Fall von verschiedenen möglichen Positionen.

Was passiert denn, wenn ich das Teilchen beobachte?

Hier beginnt das sogenannte Messproblem, bei dem man sich bislang noch nicht einig ist, wie man es theoretisch beschreiben soll. Was hingegen experimentell passiert, ist klar: Messe ich die Position eines Teilchens, werde ich es an einem bestimmten Ort beobachten. Und wenn ich die Position ein zweites Mal messe, wird das Teilchen immer noch dort sein. Das heißt, in der Quantenmechanik beeinflusst die Beobachtung den Zustand des Teilchens. Bis zum Zeitpunkt der Messung befindet sich das Teilchen in einem Superpositionszustand und wird dann auf ein Ergebnis festgelegt.

Bislang haben wir nur von einem Teilchen gesprochen. Lassen sich denn auch mehrere Teilchen durch die Quantentheorie beschreiben?

Eine der großen Fragen für uns ist, wie viele Teilchen sich noch durch die Quantenmechanik beschreiben lassen. Es ist experimentell nachgewiesen, dass kleine Teilchen wie Elektronen, Atome oder Moleküle mithilfe der Quantenmechanik beschrieben werden müssen. Jetzt kann man argumentieren, dass diese Theorie auch beschreiben soll, was aus diesen Teilchen zusammengesetzt ist. Dies lässt sich aber experimentell nicht so einfach zeigen. Denn in Systemen aus vielen Teilchen gibt es sehr viele Wechselwirkungen untereinander, wodurch sich die Teilchen wie ein klassisches System verhalten. Aber was wir experimentell nicht überprüfen können, lässt sich vielleicht trotzdem in einem theoretischen Experiment untersuchen. Daher wollen wir nun mit einem Gedankenexperiment überprüfen, ob man mit der Quantenmechanik auch beliebig große beziehungsweise komplexe Systeme beschreiben kann.

Wie sieht das Gedankenexperiment aus?

Im Wesentlichen ist unser Gedankenexperiment eine Erweiterung eines früheren Experiments – „Wigners Freund“ genannt. Es gibt einen Beobachter – Wigners Freund –, der eine Münze wirft. Betrachtet man die Münze als Quantensystem, befindet sie sich nach dem Wurf – solange man nicht nachguckt – in einem Superpositionszustand aus „Kopf“ und „Zahl“. Erst durch eine Beobachtung von Wigners Freund wird gemessen, auf welcher Seite die Münze gelandet ist. Jetzt ist Wigners Freund aber in einem abgeschlossenen Labor, das von einer außenstehenden Person – Wigner selbst – als Quantensystem betrachtet wird. Und aus Wigners Sicht befinden sich Wigners Freund und die Münze in dem Labor in einem Superpositionszustand, obwohl sein Freund schon weiß, wie die Münze gefallen ist.

Ist das nicht ein Widerspruch?

Nicht wirklich. Denn sobald Wigner das Labor öffnet und nachschaut, wird er genau ein Wurfergebnis – „Kopf“ oder „Zahl“ – beobachten. Und dies wird das gleiche Ergebnis sein, das auch sein Freund beobachtet hat. Das Gedankenexperiment spricht also nicht gegen die Quantenmechanik, weil die Messergebnisse von Wigner und seinem Freund sich nicht widersprechen. In unserem erweiterten Gedankenexperiment fügen wir noch zwei weitere Akteure hinzu. Diese können jeweils auf ihre eigene Art und Weise erfahren, auf welche Seite die Münze gefallen ist. Dafür können die vier Beteiligten teilweise miteinander kommunizieren. Wir haben nun berechnet, dass unter bestimmten Umständen zwei der Beobachter zu einem unterschiedlichen Ergebnis des Münzwurfs kommen. Einer ist sich sicher, dass die Münze „Kopf“ zeigt, und der andere beobachtet gleichzeitig das Wurfergebnis „Zahl“. Doch natürlich können nicht beide recht haben – und damit haben wir einen Widerspruch.

Woran liegt das?

Wir haben in unserem Gedankenexperiment verschiedene Annahmen gemacht. Da das Ergebnis insgesamt zu einem Widerspruch führt, muss eine der Annahmen falsch sein. Eine Annahme ist beispielsweise, dass die uns bekannte Quantenmechanik tatsächlich auf das ganze Labor mitsamt Wigners Freund und der Münze anwendbar ist – die Quantenmechanik also allgemeingültig ist. Das ist die komplexeste Annahme des Gedankenexperiments. Ich persönlich würde diese Annahme am ehesten aufgeben, da sie noch nie experimentell bestätigt wurde.

Gäbe es denn überhaupt eine Möglichkeit, das Gedankenexperiment im Labor nachzustellen?

In der Form, wie wir es präsentieren, sicher nicht, da sich keine quantenmechanischen Experimente mit Personen durchführen lassen. Denkbar wäre aber eine Alternative: Für das Gedankenexperiment ist es nicht notwendig, dass Wigners Freund und die anderen Beobachter Menschen sind. Sie ließen sich also durch Maschinen ersetzen. Das müssten perfekt kontrollierbare Computer sein, die die Regeln der Quantenmechanik kennen, Messungen durchführen und Schlussfolgerungen daraus ziehen können. Solche Computer gibt es zwar noch nicht, aber zumindest wäre das eine Möglichkeit. Der Zweck eines Gedankenexperiments ist aber eigentlich, die Konsistenz einer physikalischen Theorie zu überprüfen. Wir können – ohne das Experiment durchzuführen – bereits mit Sicherheit sagen, dass bestimmte Annahmen der Quantentheorie inkonsistent sind. Mit einem Experiment könnten wir die Ursachen dafür untersuchen. Aber für die Aussage an sich brauche ich das nicht. Das ist eigentlich das Schöne an einem Gedankenexperiment.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/nachrichten/2018/es-koennen-nicht-beide-recht-haben/