Komplexe Gezeiten

Jan Oliver Löfken

Küstenlandschaft bei Ebbe, schlammiger Meeresboden übersät von kleinen Pfützen

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An den Meeresküsten lassen sich innerhalb von 12 Stunden und etwa 25 Minuten einmal Ebbe und einmal Flut beobachten. Doch die Gezeiten der Meere sind noch viel komplexer. Denn die Anziehungskraft des Mondes verursacht nicht nur den täglichen Gezeitenrhythmus, sondern im Wechselspiel mit der Gravitation der Sonne auch Zyklen von Monaten und sogar Jahren. Zudem verursacht das asymmetrische Schwerkraftpotenzial des Mondes weitere, winzige Gezeiteneffekte. Einem Ozeanografen ist es nun erstmals gelungen, diesen schwachen Beitrag – Gezeiten dritten Grades genannt – über alle Weltmeere zu beobachten. Denn dieser Gezeiteneinfluss lässt sich nur schwer getrennt von den größeren Beiträgen zu Ebbe und Flut betrachten, wie der Forscher in der Fachzeitschrift „Science Advances“ berichtet.

Richard Ray vom Goddard Space Flight Center der NASA analysierte Messdaten zum Meeresspiegel, die in den vergangenen Jahrzehnten mithilfe der Radarsensoren von verschiedenen Satelliten aufgezeichnet worden waren. Zusätzlich griff Ray auf Pegelmessungen aller Ozeane der Erde zurück. Die Analysen zeigten, dass der Gezeiteneffekt dritten Grades meist nicht mehr als ein bis zwei Millimeter zur Tidenhöhe beiträgt. Doch aufgrund des Zusammenspiels von Gezeiten, Meeresströmungen und Küstenformation ist der Beitrag in manchen Regionen durchaus größer – an der brasilianischen Küste in der Nähe der Stadt Paranagua trägt dieser Effekt beispielsweise bis zu 150 Millimeter bei. Zudem ermittelte Ray in Südaustralien einen Beitrag zur Amplitude von etwa 100 Millimetern und in der Bristol Bay in Alaska von bis zu 50 Millimetern.

Mit Studien dieser Art lassen sich die für Küstenbewohner und die Schifffahrt wichtigen Gezeitenkalender weiter verfeinern. Zusätzlich sind solche Analysen wichtig, um die natürlichen Schwankungen der Tidenhöhe getrennt von einem Anstieg des Meeresspiegels infolge des Klimawandels betrachten zu können. In Zukunft lasse sich der kleine Beitrag des Schwerkraftpotenzials dritten Grades mithilfe weiterer Messungen der Tidenhöhen durch Satelliten und Pegelstationen noch genauer bestimmen, so Ray.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/erde/nachrichten/2020/komplexe-gezeiten/