Ungewöhnliches Sternsystem im jungen Kosmos

Rainer Kayser

Scheibenförmige Galaxie, umgeben von Gas und Staub.

NRAO/AUI/NSF/S. Dagnello

Bislang gingen Astronomen davon aus, dass sich Scheibengalaxien wie unsere Milchstraße erst im Lauf der kosmischen Geschichte gebildet haben. Mit der Radioteleskopanlage ALMA entdeckte ein internationales Forscherteam nun jedoch eine massereiche Scheibengalaxie, die bereits anderthalb Milliarden Jahre nach dem Urknall existierte. Künftige Beobachtungen müssten nun zeigen, ob es weitere derartige Systeme im frühen Universum gibt – oder ob es sich eher um einen extremen Ausnahmefall handelt, so die Wissenschaftler im Fachblatt „Nature“.

Gemäß den traditionellen Modellen der Galaxienentstehung bildeten sich im jungen Kosmos zunächst kugelförmige Ansammlungen aus Gas und Staub, die miteinander zusammenstießen und zu immer größeren Systemen verschmolzen. „Die Aufheizung im Rahmen solcher Verschmelzungsereignisse erschwert die Entstehung geordnet rotierender Scheiben, wie wir sie in unserem heutigen Universum beobachten“, erläutert Marcel Neeleman vom Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg. Es sollten demnach einige Milliarden Jahre vergangen sein, bis sich massereiche Scheibengalaxien im Weltall formen konnten. Und tatsächlich spürten Astronomen in den ersten drei Milliarden Jahren nach dem Urknall bislang ausschließlich sphärische Galaxien auf.

Verschwommene Aufnahme einer scheibenförmigen Galaxie im All: Heller Fleck in dunkler Umgebung, der zum Rand hin erst orange und dann violett wird.

ALMA-Aufnahme

Computersimulationen deuteten kürzlich allerdings auf ein alternatives Entstehungsszenario für Galaxien hin: Kühles Gas aus der Umgebung strömt in die wachsenden Sternsysteme ein, ohne mit der bereits vorhandenen Materie zu kollidieren und sich aufzuheizen. Auf diese Weise könnten sich Scheibengalaxien deutlich früher bilden als bislang angenommen. Neeleman und seine Kollegen suchten mit der Teleskopanlage ALMA in Chile, die aus insgesamt 66 Antennen besteht, nach solchen Systemen. Dank der hohen Auflösung der Aufnahmen konnten die Forscher nicht nur Ansammlungen von Sternen, Gas und Staub im frühen Universum nachweisen, sondern auch deren Rotation und Struktur enthüllen.

Eines der entdeckten Sternsysteme besitzt die Form einer Scheibe, hat eine Gesamtmasse von 72 Milliarden Sonnenmassen und scheint mit 272 Kilometern pro Sekunde um seine eigene Achse zu rotieren. Damit gelang es den Forschern erstmals, eine von den numerischen Simulationen vorhergesagte Scheibengalaxie im jungen Kosmos aufzuspüren. Allerdings sei es noch schwierig, die hohe Rotationsgeschwindigkeit und den hohen Anteil an kühlem Gas in dem System mit den Computermodellen in Einklang zu bringen, so das Team um Neeleman. In einem begleitenden Kommentar betont Radioastronom Alfred Tiley von der University of Western Australia in Perth, der nicht an der Studie beteiligt war, dass es sich bislang lediglich um eine einzige Galaxie dieses Typs handele. Es sind also noch weitere Ergebnisse sowohl aus Simulationen als auch aus Beobachtungen erforderlich, um Einzelheiten zu verstehen.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/universum/nachrichten/2020/ungewoehnliches-sternsystem-im-jungen-kosmos/