„Wie durch einen unsichtbaren Tunnel”

Dirk Eidemüller

Grafik: Blaue Kugeln bewegen sich auf einen Tunnel zu und müssen davor ein rotes Feld passieren; nach dem Feld ändern einige von ihnen die Richtung

Uni Innsbruck/Harald Ritsch

Vor rund hundert Jahren entdeckten Physikerinnen und Physiker erstmals, dass die kleinsten Teilchen wie etwa Atome ein ganz anderes Verhalten zeigen, als wir es aus unserer Alltagswelt kennen. Der Tunneleffekt, der es Teilchen ermöglicht, durch eigentlich unüberwindbare Barrieren zu „tunneln“, ist eines dieser fundamentalen quantenmechanischen Phänomene. Einem Forschungsteam ist es nun gelungen, den Einfluss des Tunneleffekt auf eine bestimmte chemische Reaktion experimentell zu untersuchen. Im Interview mit Welt der Physik erzählt Roland Wester von der Universität Innsbruck über die 15-jährige Entwicklung dieses Experiments.

Welt der Physik: Was passiert beim Tunneleffekt?

Porträt des Wissenschaftlers Roland Wester

Roland Wester

Roland Wester: Etwas vereinfachend gesagt führt der Tunneleffekt dazu, dass ein Quantenteilchen dort auftaucht, wo es nach den Gesetzen der klassischen Physik eigentlich gar nicht sein dürfte. Wenn man etwa beim Minigolf den Ball über einen kleinen Hügel spielen möchte, braucht der Ball eigentlich eine gewisse Geschwindigkeit, sonst rollt er an der Hügelflanke wieder zurück. Gemäß der Quantenmechanik wäre es aber dennoch möglich, dass auch ein langsamer Ball plötzlich auf der anderen Seite auftaucht – so als wäre der Ball durch einen unsichtbaren Tunnel auf die hintere Seite gelangt. Für die Alltagswelt spielt der Tunneleffekt aber keine Rolle: Ein Tennisball wird niemals einfach so durch das Netz „hindurchtunneln“. Aber im Rahmen der Quantenphysik tritt dieser Effekt auf mikroskopischer Ebene auf und man kann ihn auch mathematisch berechnen.

Für welche Teilchen lässt sich denn der Tunneleffekt beobachten?

Der Tunneleffekt kann in sehr unterschiedlichen Systemen auftreten. Man nutzt ihn in der Forschung zum Beispiel bei Rastertunnelmikroskopen. Da Elektronen zwischen der Oberfläche und der Spitze des Mikrokops „tunneln“ können, lassen sich Oberflächen mit solchen Mikroskopen kontaktfrei abtasten. In unserem Experiment haben wir eine besonders einfache chemische Reaktion untersucht: den Übergang eines Wasserstoffatoms aus einem H2-Wasserstoffmolekül zu einem negativ geladenen Deuteriumion. Deuterium ist ein Wasserstoffisotop. Allerdings hat sein Atomkern nicht nur ein Proton – wie gewöhnlicher Wasserstoff – sondern besitzt zusätzlich ein Neutron. Deshalb bezeichnet man Deuterium auch als „schweren Wasserstoff”.

Wie läuft diese Reaktion ab?

Zu Beginn liegen die Wasserstoffatome in gebundener Form, also als H2-Moleküle, sowie Deuteriumionen vor. Nach der Reaktion liegen ein negativ geladenes Wasserstoffatom sowie ein Molekül aus Deuterium und Wasserstoff vor. Die Energie der Reaktionspartner ist in unserem Experiment allerdings zu gering, um eine normale chemische Reaktion zu ermöglichen – die sogenannte energetische Barriere ist zu hoch. Deswegen kommt es nur in seltenen Fällen zu einer Reaktion und zwar nur, wenn das Wasserstoffatom bei einem Stoß zum Deuteriumion „tunnelt”. Wie häufig die Reaktion stattfindet, haben wir nun in unserem Experiment untersucht.

Die Grafik zeigt den Aufbau der drei Wasserstoffisotope Protium, Deuterium und Tritium. Sie bestehen alle aus einem Elektron in der Hülle sowie einem Proton im Atomkern, unterscheiden sich allerdings in der Anzahl der Neutronen.

Isotope von Wasserstoff

Wie war Ihr Experiment dafür aufgebaut?

Der experimentelle Aufbau bestand aus einer Ionenquelle, einer elektromagnetischen Falle und Ionendetektoren. Zunächst haben wir jeweils rund 1000 negativ geladene Deuteriumionen in die Falle befördert und danach ein sehr kaltes Gas aus Wasserstoffmolekülen dazugegeben – mit Temperaturen von nur rund 15 Grad über dem absoluten Nullpunkt. Das Gas muss so kalt sein, damit wir den Tunneleffekt überhaupt messen können. Denn bei höheren Temperaturen wäre die energetische Barriere nicht mehr so hoch und es hätten sofort die normalen chemischen Reaktionen überhandgenommen, sodass wir den Tunneleffekt gar nicht mehr hätten beobachten können.

Und wie haben Sie dann den Tunneleffekt gemessen?

Wir haben die Teilchen rund 15 Minuten lang in der Ionenfalle eingesperrt und anschließend vermessen, wie viele Deuteriumionen mit dem Wasserstoff reagiert haben. Durch den Massenunterschied zwischen Deuterium und normalem Wasserstoff können wir experimentell gut bestimmen, ob und wie häufig die Reaktion stattgefunden hat. Wir haben herausgefunden, dass ungefähr zehn von 1000 Deuteriumionen, also rund ein Prozent, dabei über den Tunneleffekt in die chemische Reaktion eingegangen sind. Dafür musste der Wasserstoff beim Tunneln eine Distanz von rund zwei Atomdurchmessern überwinden.

Wie konnten Sie sicher sein, dass tatsächlich der Tunneleffekt für die chemische Reaktion verantwortlich ist?

Bei derart tiefen Temperaturen ist die von uns gewählte chemische Reaktion ohne Tunneleffekt extrem unwahrscheinlich, weshalb nur der Tunneleffekt die gemessene Reaktionsrate erklären kann. Die Messungen decken sich auch sehr gut mit den theoretischen Berechnungen, die Forscherinnen und Forscher vor wenigen Jahren für diese chemische Reaktion durchgeführt haben. Das war damals das erste Mal, dass eine solche Tunnelreaktion mit mehreren Teilchen quantentheoretisch so präzise berechnet wurde. Die Idee zum Experiment hatten wir aber schon vor etwa 15 Jahren. Seitdem wurde nicht nur die Technik, sondern auch die theoretische Beschreibung immer weiter verfeinert. Denn quantenmechanische Berechnungen von chemischen Reaktionen mit mehreren Teilchen sind enorm komplex.

Welche Schlüsse lassen sich noch aus den Messungen ziehen?

Wir sind zunächst einmal sehr froh, dass dieses schwierige Experiment nach so vielen Jahren der Vorbereitung und Verfeinerung geklappt hat. Es ist uns gelungen, die Nachweisempfindlichkeit gegenüber Vorläuferversuchen um mehrere Größenordnungen zu steigern. Es stimmt uns auch zuversichtlich, dass die theoretischen Vorhersagen so gut bestätigt wurden. Das gibt allen Beteiligten das Vertrauen, dass die Methoden gut funktionieren. Ein mögliches Gebiet, auf dem unsere Erkenntnisse wichtig sein könnten, ist die Astrophysik. In den gigantischen galaktischen Molekülwolken herrschen oft sehr tiefe Temperaturen. Dort könnte der Tunneleffekt für chemische Reaktionen sorgen, die sonst gar nicht oder sehr viel langsamer stattfinden würden. Aber all das wird man sich nun genauer anschauen müssen.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/quanteneffekte/tunneleffekt-wie-durch-einen-unsichtbaren-tunnel/