Ein Mantel aus Neutronen

Dirk Eidemüller

Grafik eines schweren Atomkerns: Mehrere blaue und rosa Kugeln bilden eine Kugel, darum herum fliegen rote Kugeln

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In Illustrationen von Atomkernen werden die Kernbausteine – die Protonen und Neutronen – oftmals als beliebige Ansammlung von unterschiedlich farbigen Kugeln dargestellt. Doch eigentlich handelt es sich, insbesondere bei schweren Atomkernen, um hochkomplexe Gebilde. Beispielsweise sammeln sich in solchen Kernen an der Oberfläche bevorzugt Neutronen und bilden eine dünne Hülle. Die Verteilung von Protonen in schweren Kernen haben Forscher bereits vor Jahrzenten analysiert. Nun haben Wissenschaftler die Dicke der Neutronenschicht eines Bleikerns mit bislang unerreichter Genauigkeit bestimmt, wie sie in der Fachzeitschrift „Physical Review Letters“ berichten.

Auf die Protonen und Neutronen eines Atomkerns wirken permanent verschiedene Kräfte: Die starke Kernkraft wirkt etwa anziehend zwischen allen Kernbausteinen, während sich die positiv geladenen Protonen aufgrund der elektromagnetischen Kraft gegenseitig abstoßen. Zusätzlich wirkt die sogenannte Austauschwechselwirkung, wodurch sich in der Mitte eines Atomkerns bevorzugt Paare aus Protonen und Neutronen sammeln. Da schwere Atomkerne, etwa von Bleiatomen, deutlich mehr Neutronen als Protonen besitzen, besteht deren Oberfläche überwiegend aus Neutronen.

Der Radius der zusammengeballten Protonen eines Bleikerns – der sogenannte Ladungsradius – lässt sich mit Streuexperimenten bestimmen. Dafür werden hochenergetische Elektronen auf die Kerne geschossen, die wiederum von den Protonen elektrisch angezogen und dann gestreut werden. Doch da Neutronen elektrisch neutral sind, lässt sich diese Methode nicht für die Analyse des Neutronenradius verwenden. Mithilfe der sogenannten schwachen Kernkraft, die sehr viel schwächer als die elektromagnetische Kraft ist, haben die Forscher der PREX-Kollaboration vom Jefferson Lab in Newport News in den USA dieses Problem nun gelöst.

Zunächst beschossen die Forscher eine Probe des Bleiisotops 208Pb, dessen Kern aus 126 Neutronen und 82 Protonen besteht, mit hochenergetischen Elektronen. Dafür verwendeten sie den Elektronenstrahl ihres Teilchenbeschleunigers CEBAF. Die Wissenschaftler nutzten in ihren Experimenten außerdem eine besondere, quantenmechanische Eigenschaft von Elektronen – den Spin. Abhängig von diesem Eigendrehimpuls wurden die Elektronen dann im Experiment, aufgrund der schwachen Kernkraft, unterschiedlich abgelenkt. Aus den gestreuten Elektronen ließen sich Rückschlüsse auf die Verteilung der Neutronen ziehen und daraus wiederum der Gesamtradius bestimmen.

Dieser auf Basis der Neutronen bestimmte Kernradius ist größer als der zuvor bestimmte Ladungsradius – allerdings nur um 0,28 Femtometer, also nicht einmal um einen millionstel Milliardstel Meter. Das ist zwar nur ein Bruchteil des Radius eines Bleikerns. Dennoch weist das Ergebnis darauf hin, dass sich an der Oberfläche des Atomkerns tatsächlich bevorzugt Neutronen aufhalten. Solche Messungen werden künftig mit noch höherer Präzision stattfinden. Kernphysiker versprechen sich davon außerdem ein besseres Verständnis von Neutronensternen, bei denen diese Kräfte ebenfalls eine entscheidende Rolle spielt.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/nachrichten/2021/ein-mantel-aus-neutronen/