Ein ganz normales anomales Moment
Dirk Eidemüller

Ryan Postel/Fermilab
Schon lange rätseln Physikerinnen und Physiker, woraus die mysteriöse Dunkle Materie besteht, die Galaxien zusammenhält und für die Bildung von Strukturen im All verantwortlich ist. Ein vielversprechender Weg, um ihr auf die Spur zu kommen, ist das sogenannte anomale magnetische Moment des Myons. Nun beendete ein Forschungsteam ein langjähriges Präzisionsexperiment und bestimmte den Wert genauer denn je. Doch die Sensation auf der Suche nach Dunkler Materie bleibt aus.
Dunkle Materie macht wohl einen deutlich größeren Anteil im All aus als gewöhnliche Materie. Doch bislang deutet kein einziges irdisches Experiment darauf hin, worum es sich bei dieser Materie handeln könnte. Dabei konzentriert sich die Suche auf zwei unterschiedliche Methoden: Einerseits suchen Forschende auf direktem Wege. So versuchen sie, mit Teilchenbeschleunigern wie dem Large Hadron Collider am CERN, die für Dunkle Materie verantwortlichen Teilchen zu produzieren und direkt zu untersuchen. Da die Erfolge dabei bislang ausbleiben, ruht die Hoffnung immer stärker auf indirekten Methoden, in denen man bekannte Prozesse mit höchster Präzision untersucht und hofft, auf Ungereimtheiten zu stoßen.
Myonen als empfindliche Sensoren
„Einer der empfindlichsten indirekten Kanäle bei der Suche nach Physik jenseits des derzeitigen Standardmodells der Teilchenphysik ist das sogenannte anomale magnetische Moment des Myons“, sagt Martin Fertl von der Universität Mainz. Myonen sind in vielen Punkten ähnlich wie Elektronen, beziehungsweise ihre Antiteilchen, die Positronen – allerdings 200-mal schwerer. Außerdem zerfallen sie schnell wieder in ein Elektron oder Positron.
Genau wie Elektronen besitzen Myonen auch ein kleines magnetisches Moment, wie eine winzige Kompassnadel. Der genaue Wert g dieses magnetischen Moments weicht um rund 0,1 Prozent vom theoretischen Wert g=2 ab, den Berechnungen der frühen Quantentheorie ergaben. Diese Abweichung vom Wert 2 nennt man das „anomale magnetische Moment“, weil man sie bei ihrer Entdeckung vor rund 80 Jahren noch nicht gut verstand.
Der Grund dafür liegt in den sogenannten Vakuumfluktuationen, die die Kompassnadel gewissermaßen ein klein wenig stärker ausschlagen lassen. Sie gehören zu den Eigenarten der Quantenphysik, denn eine perfekte Leere gibt es in der unscharfen Quantenwelt nicht. Stattdessen tummeln sich selbst in einem sonst völlig leeren Behälter sogenannte virtuelle Teilchen, die aus dem Nichts entstehen und nach extrem kurzer Zeit wieder verschwinden. In dieser Zeit können sie allerdings das Verhalten gewöhnlicher Teilchen beeinflussen – und das magnetische Moment des Myons reagiert sogar besonders stark auf diese virtuellen Teilchen. Mit Myonen lässt sich daher gut nach bislang unbekannten Teilchen suchen: so auch nach der Dunklen Materie. Denn man muss diese Teilchen gar nicht erzeugen, sondern kann mithilfe der empfindlichen Myonen das Vakuum nach solchen virtuellen Teilchen abtasten.
Neue genaue Messungen im Einklang mit Berechnungen
Frühere Messungen des anomalen magnetischen Moments hatten deutliche Unterschiede zu theoretisch berechneten Werten ergeben. Dies hatte große Hoffnungen geweckt, neue Physik jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik zu entdecken – und vielleicht sogar Hinweise auf die Teilchen der Dunklen Materie. Doch wie sich mittlerweile herausstellte, hatten die sehr komplexen Rechnungen schlicht bestimmte Aspekte der Vakuumfluktuationen unterschätzt.
Neue Berechnungen sind nun genau genug, dass sie sich mit Werten aus Experimenten vergleichen lassen. Um experimentelle Ergebnisse so genau wie möglich zu machen und letztlich aufzuklären, ob es Abweichungen vom Standardmodell gibt, haben Fertl und sein Team eine sechsjährige Messkampagne am Fermilab bei Chicago durchgeführt. Dazu beschleunigten sie Myonen und leiteten sie durch einen 14 Meter durchmessenden Speicherring. Diesen durchliefen die Teilchen im Schnitt 1000-mal, bevor sie dann in Elektronen zerfielen. Mithilfe spezieller Detektoren bestimmten die Physikerinnen und Physiker dann, wie sich die „Magnetnadeln“ der Myonen während des Umlaufs verhielten.
So ermittelten die Forschenden schließlich den experimentellen Wert für das anomale magnetische Moment des Myons – und zwar mit bisher unerreichter Genauigkeit: Er beträgt 0,001 165 920 705, wobei erst die zehnte Stelle hinter dem Komma einer Messunsicherheit unterliegt. Das jetzt veröffentlichte neue Resultat stelle damit den krönenden Abschluss von mehr als 15 Jahren internationaler Kollaboration dar, betont Fertl. Außerdem hat das Team von über 100 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die theoretischen Berechnungen weiterentwickelt und erhielt einen Wert im Einklang mit der Messung. Die frühere Abweichung zum experimentellen Wert hat sich damit aufgelöst.
Für viele Jahre die präziseste Messung
Mittlerweile ist das Experiment abgeschaltet. Doch mit der phänomenalen Genauigkeit des Messergebnisses hat das Team einen neuen Standard gesetzt, wie Fertl betont: „Die jetzt veröffentlichten Resultate werden für viele Jahre einen festen Ankerpunkt bei der Suche nach neuer Physik jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik darstellen, an dem sich neue theoretische Ideen werden messen lassen müssen.”
Um den Messwert noch substanziell weiter zu verbessern, müssten jahrzehntelang Daten genommen werden und das Ergebnis ist bereits jetzt genauer als die theoretischen Berechnungen. Zunächst müsse deshalb „die theoretische Vorhersage mindestens das Niveau des Experiments erreichen“, so Fertl. In Zukunft soll ein Experiment in Japan weiteren Aufschluss bringen, das ab den 2030er-Jahren Daten nimmt. Die Messungen werden zwar wohl nicht so präzise wie die am Fermilab sein, ermöglichen jedoch einen ergänzenden Test zu den jetzigen Ergebnissen.
Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/nachrichten/2025/standardmodell-teilchenphysik-muon-g-2-myonen-ein-ganz-normales-anomales-moment/