„So entstehen leichte Atomkerne“

Bei Teilchenkollisionen an Beschleunigern wie dem Large Hadron Collider entstehen eine Vielzahl an Teilchen – unter anderem auch leichte Atomkerne. Wie genau sich diese bilden, war ein bislang ungeklärtes Rätsel. Im Interview erzählt Laura Fabbietti von der TU München, wie sie und ihr Team das Rätsel nun am ALICE-Detektor lösen konnten.

Dirk Eidemüller

In einer mehreckigen, runden Öffnung befindet sich eine kreisrunde Röhre, die aus Metallgestänge besteht und im Inneren blau leuchtet; an ihrem anderen Ende steht ein Mensch.

Julien Ordan/CERN

Welt der Physik: Welche Arten von Teilchen entstehen bei energiereichen Teilchenkollisionen am Large Hadron Collider am Forschungszentrum CERN?

Porträt der Wissenschaftlerin Laura Fabbietti

Laura Fabbietti

Laura Fabbietti: In einem Teilchenbeschleuniger wie dem LHC wird bei einer Teilchenkollision typischerweise ein ganzer Schauer aus Teilchen erzeugt. Aus Einsteins Relativitätstheorie folgt dabei, dass Energie und Masse äquivalent sein müssen. Die enorme Energie der im LHC kollidierenden Protonen wird also in eine Vielzahl von Teilchen umgesetzt, die wir dann mithilfe von ausgeklügelten Detektoren beobachten. Zu den entstandenen Teilchen gehören nicht nur Elektronen oder Positronen – also die Antiteilchen von Elektronen –, sondern auch Hadronen.

Was sind Hadronen?

Das sind Teilchen, die aus Quarks oder Antiquarks bestehen, die wiederum zu den Elementarteilchen der Teilchenphysik zählen. Zu den Hadronen gehören ganz unterschiedliche Teilchen, darunter sogenannte Pionen genauso wie Protonen und Neutronen. Protonen und Neutronen sind die Bestandteile von Atomkernen, wobei der Kern eines Wasserstoffatoms – das leichteste Element – nur aus einem Proton besteht. Aber auch die Antimaterie-Versionen all dieser Teilchen gehören zu den Hadronen.

Entstehen bei den Teilchenkollisionen am LHC auch zusammengesetzte Atomkerne?

Wir konnten am CERN bislang schon einige leichte Atomkerne nachweisen, die aus mehreren Protonen und Neutronen bestehen. So hat man beispielsweise Deuteronen gefunden, das sind die Atomkerne von Deuterium, die aus einem Proton und einem Neutron bestehen. Außerdem Anti-Deuteronen, die aus jeweils einem Antiproton und Antineutron zusammengesetzt sind. Darüber hinaus hat man sowohl am CERN als auch in der kosmischen Strahlung die Kerne von Helium-3 und Helium-4 gefunden, die aus zwei Protonen und einem beziehungsweise zwei Neutronen bestehen. Dabei taucht eine alte Frage der Teilchenphysik auf: Wie genau entstehen solche zusammengesetzten Atomkerne eigentlich in hochenergetischen Kollisionen? Nun ist es uns endlich gelungen, diese Frage zu klären, die bereits seit einem halben Jahrhundert im Raum stand.

Was haben Sie herausgefunden?

In der Grafik ist ein zylindrische Form erkennbar, in derem Inneren sich unzählige Strahlen von einem Mittelpunkt ausgehend ausbreiten.

Energiereiche Teilchenkollision

Es gibt theoretisch zwei Möglichkeiten, wie diese zusammengesetzten Atomkerne entstehen können: Entweder wird die Energie bei der Kollision direkt in zusammenhängende Protonen und Neutronen umgewandelt. Der komplexe Atomkern entstünde dann sozusagen instantan bei der Kollision. Oder er bildet sich erst kurz nach der Kollision aus Protonen und Neutronen. Diese würden dann zum Teil als Sekundärteilchen aus extrem kurzlebigen Zwischenzuständen entstehen, die praktisch an Ort und Stelle schon wieder zerfallen. Die Protonen und Neutronen würden dann zu Deuteronen oder weiter zu Helium-Kernen fusionieren, ähnlich wie bei den Fusionsprozessen im Zentrum der Sonne. Unsere neuen Ergebnisse zeigen: In der Tat entstehen komplexe Atomkerne aus solchen Sekundärteilchen, die dann miteinander fusionieren.

Wie schnell laufen solche Prozesse ab?

Wir reden bei den Zerfällen dieser Zwischenzustände von extrem kurzen Zeiträumen von etwas mehr als einer dem Billionstel einer billionstel Sekunde, also rund 23 Stellen hinter dem Komma. In dieser Zeit durchfliegen die fast lichtschnellen Teilchen gerade mal eine Strecke, die dem Durchmesser eines Protons entspricht. Man kann sich diese Vorgänge im Zeitraffer ungefähr vorstellen wie ein extrem heißes Bad aus energiereichen Teilchen, das sehr schnell expandiert und dabei gleichzeitig abkühlt. Die Badewanne ist allerdings kaum größer als ein Atomkern. Die erste Möglichkeit, die ich eben erwähnt habe, bedeutet dann: Die komplexen Atomkerne entstehen sofort und überstehen die Phase des heißen Bades, bis es genug abgekühlt ist. Das Problem hierbei ist allerdings, dass die Bindungsenergie komplexer Atomkerne geringer ist als die thermische Energie in diesem heißen Bad. Vermutlich würden solche Atomkerne also wieder zerstört, wenn sie instantan bei der Kollision entstehen. Unsere Analyse spricht nun für die zweite Option, die über Zwischenzustände abläuft.

Und wie würde diese Option im heißen Teilchenbad ablaufen?

Diese Zwischenzustände dürfen nicht zu lange leben, sonst wären die Teilchen, die aus dem Zerfall der Zwischenzustände stammen, alle schon auseinandergeflogen und könnten nicht mehr fusionieren. Das Ganze funktioniert nur, wenn die entstandenen Teilchen nur ungefähr die Distanz eines Atomkerns zueinander haben. Diese Zeitdauer reicht aber, um die Temperaturen im heißen Teilchenbad weit genug abzukühlen. Dann werden die zusammengesetzten Atomkerne nicht mehr zerstört, sondern können das heiße Bad verlassen.

Die Illustration zeigt einen hellen Punkt, von dem zwei Pfeile ausgehen. Die Pfeile treffen jeweils auf eine Kugel, in denen sich drei weitere Kugeln befinden. Die eine ist mit Neutron beschriftet, die andere mit Delta. Von beiden Teilchen gehen Pfeile aus, die bei einer weiteren Kugel zusammentreffen - ein Deuteron. Von Delta geht ein weiterer Pfeil aus, der auf eine Kugel trifft, die mit Pion beschriftet ist.

Entstehung leichter Atomkerne

Wie haben Sie das nun nachgewiesen?

Wir haben hierzu alte experimentelle Techniken verfeinert und die besonderen Fähigkeiten des ALICE-Detektors am LHC eingesetzt. Die anderen großen Detektoren am CERN sind für andere Zwecke gebaut worden. ALICE gibt uns einmalige Möglichkeiten, um die Teilchen zu identifizieren und dadurch nukleare Prozesse sichtbar zu machen. Wenn nun die Zwischenzustände zerfallen, entstehen nicht nur Protonen und Neutronen, sondern auch andere Teilchen wie Pionen. Diese verlassen ebenfalls das heiße Bad und lassen sich im Detektor nachweisen. Wir haben nun die Korrelationen der Pionen mit den entstandenen Deuteronen, beziehungsweise Anti-Deuteronen, untersucht. Unsere Analyse hat gezeigt: Zunächst entstehen Zwischenzustände, die in Pionen, Protonen und Neutronen zerfallen. Danach fusionieren die Protonen und Neutronen zu den komplexeren Atomkernen.

Spielt das auch eine Rolle für die kosmische Strahlung?

Ja, denn die physikalischen Prozesse sind dieselben. In der kosmischen Strahlung werden sogar noch weit höhere Energien erzielt, als wir sie mit irdischen Beschleunigern erreichen können. Seit einiger Zeit findet man aber überraschend mehr zusammengesetzte Atomkerne in der kosmischen Strahlung, als der Theorie zufolge entstehen sollten. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass diese Atomkerne aus bislang unbekannten Prozessen stammen – vielleicht sogar aus Zerfällen von Teilchen der Dunklen Materie. Experimente wie unsere mit ALICE helfen, solche Prozesse besser zu verstehen und dadurch auch ein wenig mehr Licht auf die Dunkle Materie zu werfen.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/experimente/teilchenbeschleuniger/cern-lhc/alice-raetsel-der-teilchenphysik-geloest/