„Die Geheimnisse der Antimaterie aufdecken“

Um zu untersuchen, ob Antimaterie genauso der Schwerkraft unterliegt wie gewöhnliche Materie, hat ein Forschungsteam einen neuen, hochauflösenden Detektorchip entwickelt. Welche Rolle Smartphone-Photosensoren dabei spielen, erzählt Francesco Guatieri von der Technischen Universität München im Interview mit Welt der Physik.

Dirk Eidemüller

Kreisförmige Platine, auf der sich ein Quadrat aus 60 kleineren Quadraten, von denen einige rot und grün leuchten

Andreas Heddergott/TUM

Welt der Physik: Verhält sich Antimaterie genauso wie normale Materie, wenn sie der Schwerkraft ausgesetzt ist? Fällt sie also in gleicher Weise nach unten?

Porträt des Wissenschaftlers Francesco Guatieri

Francesco Guatieri

Francesco Guatieri: Diese Frage ist bislang nur teilweise beantwortet. Man weiß zwar, dass sie nach unten fällt. Es gab in der Vergangenheit auch Spekulationen, dass sie nach oben steigen könnte, aber das ist bereits experimentell widerlegt. Aber wie schnell sie nach unten fällt – mit derselben Beschleunigung wie normale Materie oder nicht – ist bislang nur grob bekannt. Sollte sich hier eine Diskrepanz zwischen normaler und Antimaterie zeigen, wäre das eine sensationelle Entdeckung und könnte wichtige Hinweise für neue physikalische Theorien liefern. So verstehen wir schließlich immer noch nicht, warum im Kosmos alle Dinge aus normaler Materie gemacht sind und nicht aus Antimaterie. Das ist eine der großen offenen Fragen der Physik.

Wie lässt sich die Beschleunigung von Antimaterie durch die Schwerkraft messen?

Konzeptionell gesehen ist ein solches Experiment ganz einfach. Man lässt Antimaterie im Schwerefeld frei nach unten fallen und misst dabei, wie weit sie in einem bestimmten Zeitraum kommt. Man wiederholt also sozusagen die Fallversuche von Galileo Galilei.

Warum ist dann der Effekt der Schwerkraft auf Antimaterie bislang nur so ungenau bekannt?

Das liegt daran, dass man Antimaterie nur sehr schwer erzeugen, speichern und kontrollieren kann. Bei jedem Kontakt mit normaler Materie zerstrahlt sie sofort zu reiner Energie. Man muss deshalb mit elektromagnetischen Fallen und einem Ultrahochvakuum arbeiten, um solche Ereignisse weitestgehend zu unterdrücken. Und dann kommt noch ein weiterer Faktor ins Spiel: Die Schwerkraft ist um viele Größenordnungen schwächer als etwa elektrische oder magnetische Kräfte. Für eine präzise Messung der Schwerebeschleunigung muss man deshalb elektromagnetische Effekte möglichst gut abschirmen.

Wie bewerkstelligen Sie das?

Wir machen unsere Experimente am Forschungszentrum CERN in Genf. Bei einem Teilchenbeschleuniger wie dem dortigen Large Hadron Collider, beziehungsweise seinen Vorbeschleunigern, lassen sich leichte Einzelteilchen aus Antimaterie erzeugen. Dazu gehören etwa Antiprotonen oder Positronen, die Antiteilchen der Elektronen. Aber diese Teilchen sind alle elektrisch geladen und reagieren hochempfindlich auf elektrische und magnetische Felder. Doch wenn man Antiprotonen und Positronen miteinander kombiniert, dann entsteht Antiwasserstoff – also das Gegenstück zu normalem Wasserstoff, der aus einem Proton und einem Elektron besteht. Antiwasserstoff ist elektrisch neutral und eignet sich deshalb hervorragend als Testobjekt für die Messung der Schwerkraft.

Wie genau laufen die Messungen ab?

Zunächst werden die Antiprotonen und die Positronen getrennt erzeugt und dann in einer speziellen Falle zusammengebracht, so dass Antiwasserstoff entsteht. Diesen schicken wir dann als Strahl mit knapp dreifacher Schallgeschwindigkeit – also rund 900 Meter pro Sekunde schnell – durch ein rund 80 Zentimeter langes Vakuumrohr und messen, wie tief die Antiwasserstoff-Atome währenddessen fallen. Und hier kommt unser neu entwickelter Sensor ins Spiel. Denn auf dieser Wegstrecke beträgt die Falldistanz bei der Geschwindigkeit nur rund fünf Mikrometer, also fünf millionstel Meter. Man muss die räumliche Ablenkung der Antiwasserstoff-Atome also sehr genau messen, um sinnvolle Aussagen zu erhalten.

Wie ist der neue Sensor aufgebaut?

Drei Wissenschaftler in weißen Kitteln und Handschuhen stehen um einen blauen Zylinder. Einer von ihnen schraubt daran mit einem Schraubendreher.

Im Labor

Wir haben eine komplexe Platine entwickelt, auf der die gesamte Elektronik und Elektrik zur Ansteuerung und Auslese integriert ist. Dazu mussten wir spezielle Elektronikkomponenten nutzen, die das hohe Vakuum vertragen, in dem unsere Versuche stattfinden. Für die Messung der Antiwasserstoff-Atome selbst nutzen wir kommerzielle Fotosensoren, wie sie in den Kameras von Smartphones zum Einsatz kommen. Diese Sensoren sind mittlerweile hochentwickelt und liefern eine hervorragende räumliche Auflösung von rund 0,6 Mikrometern.

Wie gut funktioniert der neue Sensor im Vergleich zu denen aus vergangenen Experimenten?

Frühere Sensoren hatten eine rund 35-fach schlechtere Auflösung, man konnte damit also nur vergleichsweise grobe Messungen machen. Die einzige Alternative waren fotografische Platten, wie man sie früher auch in der Analogfotografie genutzt hat. Diese liefern eine vergleichbare Präzision wie die neuen Fotosensoren.

Worin besteht dann überhaupt der Vorteil von elektronischen Sensoren?

Mit den Fotoplatten konnte man jeweils nur eine Messung machen, danach musste man sie entwickeln. Und wenn irgendwas beim Experiment nicht perfekt lief – und das passiert oft –, dann war stundenlange Arbeit vergeblich. Die Erzeugung von Antiwasserstoff ist schließlich sehr schwierig. Wir können lediglich rund 30 solcher Antimaterie-Atome pro Stunde messen. Mit den neuen Fotosensoren können wir endlich in Echtzeit hochpräzise Messungen durchführen. Damit hoffen wir, die Geheimnisse der Antimaterie zumindest ein Stück weit aufzudecken.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/antimaterie/cern-die-geheimnisse-der-antimaterie-aufdecken/