„Antriebstechnik aus dem Achterbahnbau“

Dirk Eidemüller

Blick nach oben in einen Fahrstuhlschacht, an dessen Seiten Schienen angebracht sind

Leibniz Universität Hannover/Marie-Luise Kolb

An der Universität in Hannover ging kürzlich ein neuartiger Fallturm in Betrieb. Mit dem „Einstein-Elevator“ lassen sich Experimente in der Schwerelosigkeit durchführen – zumindest für einige Sekunden. Das Besondere an der Anlage: Die Schwerelosigkeit wird nicht wie üblich durch den freien Fall in einer großen Vakuumröhre erreicht, sondern durch eine präzise Antriebssteuerung. Wie das funktioniert, erklärt Christoph Lotz vom Hannover Institute of Technology – verantwortlich für die Entwicklung des Fallturms – im Interview.

Wie funktionieren üblicherweise Falltürme und was haben Sie verändert?

Porträt des Wissenschaftlers Christoph Lotz

Christoph Lotz

Christoph Lotz: Um möglichst perfekte Schwerelosigkeit zu erzeugen, darf keine Reibung auftreten – also auch keine Luftreibung. Üblicherweise muss deshalb der gesamte Fallturm mit Vakuumpumpen evakuiert werden – bis ein ausreichendes Vakuum herrscht. Dann lässt man eine Kapsel fallen. Nach ein paar Sekunden landet diese dann unten in einem großen Behälter mit Styroporkugeln. Um die Kapsel zu bergen, muss erst wieder Luft in den Turm gelassen werden. Dieser ganze Prozess dauert sehr lange, sodass sich pro Tag typischerweise nur zwei bis drei Versuche durchführen lassen. Unser Fallturm funktioniert anders: Wir beschleunigen die Experimentkapsel und die umgebende Gondel mit starken Elektromotoren nach oben und führen die Gondel dann so, dass im Inneren Schwerelosigkeit herrscht.

Wie kann man sich das vorstellen?

Es ist mit einem Parabelflug vergleichbar und zwar einem vertikalen Parabelflug. Das Experiment fliegt bei uns senkrecht nach oben und kehrt auf gleichem Weg wieder zurück. Interessanterweise kommt die von uns verwendete Antriebstechnik aus dem Achterbahnbau. Diese ist sehr leistungsfähig und kann selbst ein tonnenschweres Objekt wie unsere Gondel mit dem Experiment auf wenigen Metern stark beschleunigen.

Wie schnell kann die Gondel mit dieser Antriebstechnik beschleunigt werden?

Unsere Kapsel ist rund zwei Meter hoch bei einem Durchmesser von 1,7 Metern, wiegt gemeinsam mit dem Antrieb knapp 1,7 Tonnen und kann nochmals eine Tonne Nutzlast tragen. Dank des 4,8 Megawatt starken Antriebs können wir sie auf den unteren fünf Metern auf 20 Meter pro Sekunde beschleunigen. Den Rest des 20 Meter freien „Flugs“ müssen wir dann nur noch mit geringer Leistung die Geschwindigkeit regeln – und ganz unten die Kapsel natürlich wieder herunterbremsen.

Und Sie benötigen keine Vakuumpumpen?

Im gesamten Turm herrscht ganz normaler Luftdruck. Die Kunst besteht darin, mithilfe der Antriebe die Luftreibung und die Reibung an den Führungsschienen möglichst präzise auszugleichen. Wir können die Anlage so genau steuern, dass wir ein Experiment in der Gondel über die gesamte Freiflugdauer von etwa vier Sekunden rund fünf Zentimeter über dem Gondelboden in der Schwebe halten können. Wir haben aber Vakuumpumpen, um die Gondel zu evakuieren. Bei besonders empfindlichen Experimenten können sich nämlich die Schwingungen der Gondelwand über Schallwellen in der Luft auf das Experiment übertragen und es dadurch stören. Die Gondel lässt sich aber im Gegensatz zum ganzen Turm sehr schnell evakuieren.

Wie viele Versuche lassen sich am Tag durchführen?

Im Prinzip können wir alle vier Minuten einen neuen Versuch starten, sodass bis zu 300 freie „Flüge“ pro Tag möglich sind. Da die Gondel aber für neue Experimente umgerüstet werden muss, werden das in der Praxis im Schnitt sicherlich deutlich weniger sein. Aber gerade für physikalische Versuche – bei denen eine gewisse Statistik erreicht werden muss – bietet unser System große Vorzüge, weil man die Experimente jetzt schnell mehrfach wiederholen kann. Das ist insbesondere für quantenphysikalische Versuchsreihen wichtig.

Leibniz Universität Hannover/Christoph Lotz

Können Sie auch andere Schwerkraftszenarien erzeugen?

Ja, das ist der große Vorteil unseres angetriebenen Systems gegenüber reinen Falltürmen. Wir können die Gondel auch gebremst fahren, sodass wir anstelle von Schwerelosigkeit eine verringerte Schwerkraft wie etwa auf dem Mond oder auf dem Mars nachstellen können. Bei einem solchen Flug können Dinge getestet werden, die für eine Mond- oder Marsstation oder auch für einen Rover wichtig sind. Experimente, die wir mit unserem Fallturm angehen wollen, beschäftigen sich zum Beispiel mit der Fertigung von Bauteilen unter verschiedenen Gravitationsbedingungen.

Warum beschäftigen Sie sich damit?

Zurzeit wird viel davon geredet, ob die Menschheit nicht eines Tages eine dauerhaft bemannte Siedlung auf dem Mond und danach vielleicht auch auf dem Mars errichten sollte. Da es sehr teuer ist, Baumaterial so weit zu transportieren, möchte man untersuchen, ob und wie man vor Ort mit Mondgestein arbeiten kann, um daraus beispielsweise Gebäude zu errichten. Es gibt Versuche, solches Gestein mithilfe von Laserstrahlen aufzuschmelzen und zu verbinden. Ob das unter geringerer Gravitation genauso gut funktioniert, sollte natürlich vorher ausgiebig getestet werden. In unserem Fallturm können wir kostengünstig durchspielen, inwieweit solche Technologien auch auf dem Mond funktionieren.

Der Aufbau dieser komplexen Anlage war sicher nicht ganz einfach?

Generell haben wir viel Wert auf die Verwendung von auf dem Markt vorhandener Technik gelegt. Aber gerade Dinge, wie etwa das hoch präzise Positionsmesssystem, die Gondel und der Antrieb sind Prototypen und kein Standard. Seit der ersten Idee im Jahr 2009 haben wir gemeinsam mit Kollegen aus dem Institut für Transport- und Automatisierungstechnik und dem Institut für Quantenoptik diese weltweit einzigartige Anlage entwickelt.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/technik/antriebstechnik-aus-dem-achterbahnbau/