„Wir müssen nur noch an Feinheiten arbeiten“

Kim Hermann und Jana Harlos

Eine Luftaufnahme verschiedener Gebäude, die sich im Bau befinden. Eines der Gebäude ist sehr lang und schmal.

Perry Nordeng/ESS

Seit dem Jahr 2014 entsteht in Lund die Europäische Spallationsquelle ESS, die in ihrer Art einmalig sein wird. Mithilfe eines Linearbeschleunigers werden dort Neutronen freigesetzt, mit denen sich nicht nur die Struktur von weicher Materie, sondern auch viele neue physikalische Prozesse untersuchen lassen werden. Um die Proben zukünftig mit möglichst großer Effizienz zu analysieren, entwickeln Forscher unter anderem spezielle Probenumgebungen. Worum es sich dabei handelt und wie sich die Proben überhaupt mit Neutronen untersuchen lassen, berichtet Thomas Hellweg von der Universität Bielefeld im Interview mit Welt der Physik.

Welt der Physik: Wie lassen sich Neutronen nutzen, um Materie zu erforschen?

Thomas Hellweg: Neutronen sind aufgrund ihrer speziellen Eigenschaften eine einmalige Sonde, um Materie zu untersuchen: Sie sind elektrisch neutral, weshalb sie nicht mit den Elektronen eines Atoms wechselwirken, sondern nur mit den Atomkernen. Insbesondere lässt sich Wasserstoff gut mit Neutronen untersuchen. Deswegen ist diese Art der Strukturanalyse besonders für weiche Materie und biologische Systeme interessant. Das steht beispielsweise im Kontrast zur Röntgenstrahlung, mit der sich leichte Elemente wie Wasserstoff oder Lithium vergleichsweise schlecht analysieren lassen.

Mit welchen Proben beschäftigen Sie sich?

Wir interessieren uns vor allem für sogenannte Kolloide – also kleine Teilchen, die in einem Medium, wie etwa einer Flüssigkeit, fein verteilt sind. Als Modellsystem haben wir uns nun auf wenige Mikrometer große Gelpartikel aus Polymeren konzentriert. Diese sogenannten intelligenten Mikrogele sind in der Lage, auf externe Reize zu reagieren. Dadurch können sie etwa für die Sensorik interessant sein oder auch als Hilfsmittel zur Freisetzung von Pharmaka dienen. Und mit Neutronen können wir die Strukturen und Eigenschaften solcher Mikrogele dann im Detail analysieren.

Wo werden solche Mikrogele mit Neutronen untersucht?

Portraitbild des Forschers Thomas Hellweg

Thomas Hellweg

Dafür nutzt man Forschungsanlagen, an denen speziell für solche Experimente Neutronen erzeugt werden. Am häufigsten werden Forschungsreaktoren verwendet, die auf der Kernspaltung von Uran basieren. Doch auf der Suche nach alternativen Technologien wurde in den vergangenen Jahren die Europäische Spallationsquelle ESS in Lund entwickelt, die sich aktuell im Bau befindet. Diese Neutronenquelle wird einen Linearbeschleuniger nutzen. In den Beschleunigern werden Protonen beschleunigt, die dann mit hohen Energien auf ein sogenanntes Target – in der Regel ein Schwermetall – treffen. Bei diesem Protonenbeschuss platzen die Atomkerne in dem Target und Neutronen werden freigesetzt. Der Vorteil dieser Methode ist, dass einerseits vergleichsweise wenig radioaktiver Abfall entsteht und sich andererseits sehr hohe gepulste Neutronenflüsse für die Experimente erreichen lassen.

Und wie lässt sich dann die Struktur der Proben untersuchen?

Die Neutronen treffen auf eine Probe, wie etwa das intelligente Mikrogel, und werden an ihr gestreut. Die Intensitäten dieser an der Probe gestreuten Neutronen werden dann von einem Detektor aufgenommen. Wir analysieren dieses zweidimensionale Detektorbild, um daraus auf die Struktur rückzuschließen. Zur Analyse von unterschiedlichen Eigenschaften von Mikrogelen und weicher Materie im Allgemeinen haben wir nun gemeinsam mit unseren Kollegen der Technischen Universität Darmstadt und der Technischen Universität München drei Probenumgebungen für zukünftige Experimente an der ESS entwickelt.

Welche Rolle spielen die Probenumgebungen?

Man braucht Probenumgebungen, um die Probe während des Experiments an einer Position zu halten. Das einfachste Beispiel dafür wäre eine Küvette, also ein Glasbehältnis, in das man eine Probe einfüllt. Außerdem müssen die Umgebungsbedingungen wie die Temperatur oder die Luftfeuchtigkeit der Proben für unsere Experimente kontrolliert werden. Und um nicht alle fünf Minuten eine Küvette wechseln zu müssen, nutzt man dann einen sogenannten Mehrfach-Probenhalter, der in unserem Fall bis zu vierzig Küvetten enthält und die einzelnen Positionen automatisiert nacheinander abfahren kann. Für Experimente mit Neutronen muss man zusätzlich den Einfallswinkel der Neutronen kontrollieren können und gleichzeitig einen Teil der Proben vor den Neutronen schützen. Deshalb wollen wir, dass während eines Experiments möglichst viel automatisiert abläuft, möglichst viele Proben gleichzeitig eingeschleust und dann nacheinander vermessen werden können.

Werden solche Probenhalter schon verwendet?

An Neutronenquellen wie dem Institut Laue-Langevin in Grenoble oder auch dem Heinz Maier-Leibnitz Zentrum in München werden ähnliche Probenumgebungen bereits verwendet. Da wir aber Probenumgebungen für die ESS entwickeln, müssen diese andere Eigenschaften erfüllen, um den höheren Neutronenflüssen Rechnung zu tragen. Deswegen bauen wir spezielle Probenumgebungen, mit denen sich Proben mit möglichst großer Effizienz untersuchen lassen werden. Dafür nutzen wird das sogenannte Plug and Play-Konzept.

Was verbirgt sich dahinter?

Die Probenumgebungen sollen so entwickelt werden, dass sie sich möglichst schnell austauschen lassen. Denn während der Umbauzeit von Probenumgebungen lassen sich die Neutronen nicht nutzen. Und je höher der Neutronenfluss ist, desto mehr Neutronen werden verschwendet. Die Dauer des Umbaus kann teilweise die Hälfte der gesamten Experimentierzeit ausmachen. Deswegen möchten wir diese Plattformen entwickeln, in der man eine Probenumgebung innerhalb von Minuten in das Instrument rein- und wieder rausfahren kann.

Warum gibt es solche Probenumgebungen nicht für die laufenden Neutronenquellen?

Da der Neutronenfluss bei diesen Anlagen niedriger ist, war das bislang noch nicht so relevant. Aber unsere Probenumgebungen können zukünftig etwa auch am Heinz Maier-Leibnitz Zentrum in München verwendet werden. Die Umgebungen sollen also universeller einsetzbar sein als bisherige. Außerdem sollen sie die Möglichkeit bieten, während einer Messung die Proben auch mit anderen Methoden zu charakterisieren. Das ist insbesondere interessant, wenn man biologische Systeme untersuchen möchte, die sich während eines Experiments verändern können. Solche Effekte würde man nur schlecht während eines Neutronenexperiments beobachten können, doch mit unseren Probenumgebungen wird auch das möglich sein. Wir haben bereits erste Tests mit allen drei Probenumgebungen gemacht und es hat sich gezeigt, dass sie so gut wie einsatzfähig sind. Wir müssen nur noch an Feinheiten arbeiten.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert das Projekt „FlexiProb: Flexible Probenumgebungen für die Untersuchung weicher Materie zur Implementierung an der ESS“ im Zeitraum von Juli 2016 bis Juni 2022 mit rund 2 000 000 Euro.

Fördersumme: 2 061 983,29 Euro

Förderzeitraum: 01.07.2016 bis 30.06.2022

Förderkennzeichen: 05K16PB1, 05K16KT4, 05K16WOA

Beteiligte Institutionen: Universität Bielefeld, Technische Universität Darmstadt, Technische Universität München

Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/bmbf/erforschung-kondensierter-materie/wir-muessen-nur-noch-an-feinheiten-arbeiten/