„Ein neuer Kandidat für Dunkle Materie“

Kim Hermann

Das Bild zeigt den Galaxienhaufen Abell 520. Vor dem dunklen Hintergrund des Weltalls befinden sich mehrere Galaxien. Sie sind umgeben von Dunkler Materie, die grafisch als eingefärbte Fläche gezeigt wird.

NASA/GSFC

Bereits in den 1930er-Jahren stellten Astronomen fest, dass sich alleine mit der uns bekannten Materie zahlreiche Phänomene im Weltall nicht erklären lassen. Seither suchen Forscher nach einer unsichtbaren Form von Materie, die sich hauptsächlich über die Gravitation bemerkbar macht. Doch woraus diese Dunkle Materie bestehen könnte, ist bislang unklar. Nun schlugen Hermann Nicolai vom Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik und Krzysztof Meissner von der Universität Warschau einen neuen Kandidaten für ein Dunkle-Materie-Teilchen vor. Welche besonderen Eigenschaften dieses sogenannte Gravitino hat und wie es sich möglicherweise nachweisen lässt, erzählt Hermann Nicolai im Interview mit Welt der Physik.

Welt der Physik: Warum gehen Physiker davon aus, dass es Dunkle Materie gibt?

Hermann Nicolai: Schaut man sich etwa die Bewegung von Galaxien in Galaxienhaufen an, lässt sich beobachten, dass die Galaxien viel schneller sind als erwartet. Denn gäbe es nur die gewöhnliche Materie – auch baryonische Materie genannt –, müssten die Galaxien eigentlich auseinanderfliegen. Daraus schließen Forscher, dass es noch viel mehr Materie im Universum geben muss, die wir bislang noch nicht beobachten konnten – die Dunkle Materie. Diese Annahme wurde immer wieder durch unterschiedliche astronomische Beobachtungen bestätigt.

Was weiß man bisher über die Dunkle Materie?

Üblicherweise geht man davon aus, dass es sich bei Dunkler Materie um Teilchen handelt, die hauptsächlich über die Gravitation mit der gewöhnlichen Materie wechselwirken. Ob die Dunkle-Materie-Teilchen noch auf andere Art und Weise mit der baryonischen Materie interagieren, ist noch ungewiss. Wissenschaftler suchen schon seit vielen Jahren nach theoretischen Modellen, die sowohl die gewöhnliche Materie als auch Dunkle-Materie-Teilchen beschreiben. Und mittlerweile wurden schon einige hypothetische Teilchen dafür vorgeschlagen.

Können Sie ein paar Beispiele nennen?

Ein möglicher Kandidat ist das sogenannte Axion, das neben der Gravitation auch über die elektromagnetische Kraft wechselwirkt. Man weiß allerdings nicht viel über dieses hypothetische Teilchen, noch nicht einmal welche Masse ein Axion genau hat oder wie stark es wechselwirkt. Auch schwerere Kandidaten wie das „Weakly Interacting Massive Particle“ – übersetzt: schwach wechselwirkendes massereiches Teilchen – oder kurz WIMP sind im Rennen. WIMPs wechselwirken mit der gewöhnlichen Materie zusätzlich über die schwache Kraft. Ähnlich wie Neutrinos sind sie deswegen sehr schwer nachzuweisen. Es könnten also jede Sekunde Billionen dieser Teilchen den menschlichen Körper durchfliegen, ohne dass man etwas davon mitbekommt.

Versucht man trotzdem, diese Teilchen nachzuweisen?

Das Bild zeigt die beiden Forscher Krzysztof Meissner und Hermann Nicolai. Zwischen ihnen steht eine Skulptur von Albert Einstein.

Krzysztof Meissner und Hermann Nicolai

Forscher versuchen beispielsweise WIMPs mit dem XENON1T-Detektor im Gran-Sasso-Untergrundlabor nachzuweisen – bisher allerdings vergeblich. Auch am Forschungszentrum CERN wollen Physiker mit Beschleunigerexperimenten Dunkle-Materie-Teilchen erzeugen und messen. Bislang wurde auch dort kein passendes Teilchen gefunden. Außerdem versucht man, mit Teleskopen Spuren von Prozessen im Weltall zu beobachten, an denen Dunkle Materie beteiligt war. Bisher blieb aber auch diese Suche erfolglos. Man blickt damit auf eine dreißigjährige Geschichte von Versuchen zurück. Doch die Forscher sind sich einig, dass die Theorie zur Dunklen Materie nur validiert werden kann, wenn sich ein Dunkle-Materie-Teilchen beobachten lässt.

Wie wollen Sie das Rätsel der Dunklen Materie lösen?

Wir schlagen einen völlig neuen Kandidaten für ein Dunkle-Materie-Teilchen vor. Ursprünglich wollten wir eine vereinheitlichte Theorie entwickeln, um die Struktur und den Aufbau des Standardmodells der Teilchenphysik zu erklären. Dabei haben wir einen Ansatz verwendet, der neben den baryonischen Teilchen ein weiteres erfordert – das sogenannte Gravitino. Und diese Gravitinos sind mit ihren besonderen Eigenschaften kompatibel mit den Beobachtungen zur Dunklen Materie. Unser neuer Kandidat ist extrem schwer und würde – im Gegensatz zu den bislang diskutierten Kandidaten – sogar über die starke und elektromagnetische Kraft mit der gewöhnlichen Materie wechselwirken.

Und warum wurde bislang noch kein Gravitino beobachtet?

Aus Simulationen weiß man, wie viel Dunkle Materie in unserem Weltall vorhanden sein muss. Daraus lässt sich eine Dichte der Dunkle-Materie-Teilchen vorhersagen. Zum Vergleich: Bestünde Dunkle Materie beispielsweise aus Protonen, bräuchte man etwa ein Proton pro Kubikzentimeter, um die erforderliche Masse an Dunkler Materie zu liefern. Da das Gravitino allerdings viel schwerer als ein Proton ist, gäbe es nur etwa ein Teilchen pro zehntausend Kubikkilometer. Somit kämen Gravitinos sehr viel seltener vor als die leichteren Kandidaten und das macht es schwieriger, sie zu beobachten.

Wie ließe sich ein Gravitino möglicherweise trotzdem nachweisen?

Eine Möglichkeit wäre es, mit Detektoren tief im Untergrund unserer Erde nach Gravitinos zu suchen. Die von uns postulierten Gravitinos treten zwar mit Materie in Wechselwirkung, dringen aber aufgrund ihrer hohen Masse – anders als die meisten Teilchen – ungestört in die Erde ein. Aber auch andere Teilchen, wie beispielsweise Myonen, dringen bis in den Untergrund. Doch aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften ließen sich die Gravitinos von den anderen Teilchen unterscheiden. Allerdings sind Gravitinos so selten, dass man wahrscheinlich sehr lange auf ein Signal warten müsste.

Was wäre eine Alternative zur Untergrundmessung?

Unsere Erde fliegt nun seit etwa 4,5 Milliarden Jahren durch das Sonnensystem. In dieser Zeit sind möglicherweise einige Gravitinos durch die Erde geflogen und haben dabei eventuell Spuren hinterlassen. Man könnte also auf eine Art Fossiliensuche gehen, bei der unsere Erde als natürlicher Detektor dient. Vielleicht haben Gravitinos in sonst sehr stabilen und langlebigen Kristallstrukturen wie der des britischen Krondiamanten eine Spur hinterlassen. Das ist zwar sehr spekulativ, aber ein Blick würde sich vielleicht lohnen.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/universum/dunkle-materie/ein-neuer-kandidat-fuer-dunkle-materie/