Künstliche Dunkle Materie im Labor?

Thomas Lohse

Zerfall eines supersymmetrischen Teilchens

Der Urknall hat es uns vorgemacht. Er hat soviel von der geheimnisvollen Dunklen Materie erzeugt, dass sie heute etwa achtzig Prozent der Gesamtmaterie des Weltalls ausmacht. Mit den modernen Teilchenbeschleunigern wie dem Large Hadron Collider (LHC) am CERN bei Genf stellen die Teilchenphysiker in kleinen Raumbereichen künstliche Bedingungen her, wie sie nur winzige Bruchteile einer Sekunde nach dem Urknall geherrscht haben. Sollte es dann nicht auch gelingen, den Urknall nachzuahmen und Teilchen der Dunklen Materie künstlich herzustellen?

Die Lage ist gespannt. Supersymmetrie, Superstrings, zusätzliche Raumdimensionen, alles schön und gut. Aber gesehen haben die Elementarteilchenphysiker an ihren riesigen Teilchenbeschleunigern davon bisher nichts. Immer präziser haben sie das Standardmodell der Elementarteilchen bestätigt, und die verzweifelten Versuche, die Physik jenseits dieses scheinbar allmächtigen Bollwerks zu entdecken, schlugen alle fehl (siehe Artikel „Zutaten für ein Universum“). Hingegen führen immer genauere Messungen dazu, dass die Eigenschaften von neuen hypothetischen Teilchen und Kräften mehr und mehr eingeschränkt werden – sollte es sie denn wirklich geben. Wie auch immer, irgendetwas gibt es sicher, denn die Materie im Weltall besteht zu 80 Prozent aus Dunkler Materie, die schlicht nicht ins Standardmodell passt. Die zugehörigen Teilchen könnten einfach zu schwer sein, so dass sie an unseren Beschleunigeranlagen bisher nicht erzeugbar waren. Ein Beschleuniger mit mehr Energie musste also her, denn mehr Energie bedeutet nach Albert Einsteins Relativitätstheorie auch größere erzeugbare Teilchenmasse!

Der LHC auf der Spur der Dunklen Materie

Foto: Blick entlang einer leicht nach rechts gekrümmten Betontunnelröhre, in der ein Teilchenbeschleuniger aus langen, metallenen Röhren mit zahlreichen Kabeln und anderen technischen Geräten aufgebaut ist.

Blick in den LHC-Tunnel

Der Large Hadron Collider (LHC) am CERN bei Genf soll uns ermöglichen, endlich den entscheidenden Schritt über die Grenzen des Standardmodells hinweg zu schaffen (siehe Artikel unter „LHC“). Seit 2010 werden dort Protonen auf Energien von 3,5 TeV (Teraelektronenvolt, eine Billion Elektronenvolt) beschleunigt. In einigen Jahren soll diese Energie nochmals verdoppelt werden, dann also 7 TeV betragen. Das ist etwa das 7000-fache des Energieäquivalents der Protonenmasse und das 7-fache des Weltrekordes vor dem Jahr 2010. Die Protonen werden in einem so genannten Speicherring auf frontalem Gegenkurs gehalten, sodass bei Kollisionen insgesamt eine Energie von 14 TeV verfügbar wird. Nur ein Teil hiervon wird allerdings in einem Streuvorgang tatsächlich umgesetzt, denn die Protonen kollidieren nicht als Ganzes. Es sind lediglich die Bestandteile der Protonen, die Quarks und Gluonen, die zusammenprallen. Dennoch reicht das aus, um Teilchen mit einer Masse von einigen tausend Protonenmassen in hinreichender Zahl zu erzeugen. Nach unseren theoretischen Erwartungen sollte das für die Teilchen der Dunklen Materie eigentlich bequem reichen.

Ganz so einfach ist die Sache aber nicht. Das sieht man schon daran, dass die beiden Vielzweckdetektoren ATLAS und CMS, die am LHC für die Erforschung der TeV-Massenskala aufgebaut werden, wahre Monster sind, in denen man mehrere Einfamilienhäuser verstecken könnte. Sie sind vollgestopft mit modernster Detektortechnologie sowie schneller Elektronik mit vielen Millionen Einzelkanälen und werden kontrolliert von Computernetzwerken mit Tausenden von Rechnerknoten. Der Grund für diesen extremen Aufwand ist, dass man im Allgemeinen sehr viele Kollisionen von Protonen abwarten muss, bevor rein zufällig einmal etwas Interessantes, wie ein neues schweres Teilchen, produziert wird.

Konstruktionszeichnungen von vier hausgroßen Nachweisgeräten für Elementarteilchen. Jede dieser riesigen Apparaturen besteht aus einer Vielzahl von komplexen technischen Komponenten.

Die vier LHC-Experimente

Um nicht allzu lange warten zu müssen, muss man also in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Kollisionen erzeugen. Am LHC durchkreuzen sich im Zentrum der beiden Vielzweckdetektoren 40 Millionen Mal in der Sekunde zwei Protonenpakete, wobei typisch zwei Dutzend Kollisionen von Protonen gleichzeitig stattfinden und sich überlagern. Dabei entstehen insgesamt einige tausend Teilchen, mit denen die Detektoren fertig werden müssen – und zwar schnell, 40 Millionen Mal in der Sekunde. Auslesen und abspeichern kann man jedoch nur einen kleinen Bruchteil dieser ungeheuren Informationsflut. Daher muss der Detektor mit Hilfe schneller Elektronik und großer Computernetzwerke sofort die interessanten Kollisionen herausselektieren und zur Speicherung weiterleiten und die übrigen verwerfen.

Es kann Stunden oder länger dauern, bis ein bestimmter interessanter, jedoch seltener Prozess jenseits des Standardmodells auch nur einmal auftritt. Solche besonderen Ereignisse muss ein Detektor also mit hoher Wahrscheinlichkeit erkennen und die zugehörige Information weiterleiten. Die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen ist das reinste Kinderspiel gegen diese Aufgabe. Aber wie soll das vor sich gehen, wenn wir nicht einmal wissen, wonach wir bei der Fahndung nach der Dunklen Materie genau suchen?

Hinweise auf Dunkle Materie?

Eine Möglichkeit bietet die Tatsache, dass die gesuchten Teilchen der Dunklen Materie nur sehr schwache Kraftwirkungen spüren und somit nach ihrer Erzeugung irgendwo seitlich aus dem Detektor herausgeschleudert werden, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Damit wird die gemessene Energiebalance im Detektor empfindlich gestört – es fehlt Energie. Dies ist der wichtigste Fingerabdruck der gesuchten Ereignisse, den man noch mit einigen anderen kombinieren kann, wie zum Beispiel der Messung hochenergetischer Teilchenbündel im Detektor, so genannten Jets. Auf diese Weise hofft man, die Existenz der neuen Teilchen recht schnell zu erkennen.

Schematische Darstellung einer Teilchenzerfallskette: Am Kollisionspunkt entsteht ein großes rotes Teilchen, das in zahlreiche kleine blaue und ein rotes Teilchen zerfällt. Dieses wiederum zerfällt in ein Elektron und ein weiteres rotes Teilchen, dieses in ein Positron und ein rotes Neutralino. Das Neutralino verlässt den Detektor unbeobachtet, sodass in der Energiebilanz des Zerfalls schließlich Energie fehlt.

Kaskadenzerfall supersymmetrischer Teilchen

Der nächste Schritt wird noch verzwickter. Es gibt etwas Neues, aber was ist das genau? Ab jetzt benötigt man eine hinreichend große Zahl von exotischen Ereignissen mit neuen Teilchen und einen Satz von theoretischen Modellen, die mit den Beobachtungen verglichen werden können. Dabei werden die von den Teilchenphysikern derzeit favorisierten Modelle mit supersymmetrischen Teilchen besonders scharf geprüft werden, in denen meistens ein Neutralino das leichteste und somit stabile supersymmetrische Teilchen ist (siehe Artikel „Die Teilchenverdopplerin: Supersymmetrie“). Dieses Neutralino drängt sich daher als elementarer Bestandteil der Dunklen Materie geradezu auf. Man erwartet, dass eine ganze Reihe supersymmetrischer Teilchen in den Kollisionen erzeugt werden können, die allerdings praktisch sofort wieder zerfallen und dabei sowohl gewöhnliche Teilchen als auch leichtere supersymmetrische Teilchen bilden, bis hin zum leichtesten Neutralino.

Die in solchen Kaskaden erzeugten gewöhnlichen Teilchen werden vom Detektor registriert; nur das leichteste supersymmetrische Teilchen entweicht unbemerkt. Das liefert die entscheidenden Informationen über die in die Zerfallskaskaden verwickelten supersymmetrischen Teilchen, und man kann mit ein paar raffinierten Tricks tatsächlich die Massen der produzierten supersymmetrischen Teilchen einigermaßen genau bestimmen. Außerdem kann man aus der Häufigkeit und Art der gemessenen Zerfälle auch die theoretischen Modelle festnageln, die zu den Beobachtungen passen, zumindest bei denen, die nicht unnötig kompliziert sind und durch ihre Eleganz bestechen. Innerhalb eines solchen festgezurrten Modells kennt man dann im Prinzip alle Eigenschaften, insbesondere alle Massen, Zerfallstypen und Wechselwirkungsraten sämtlicher supersymmetrischen Teilchen.

Im letzten und entscheidenden Schritt kann man mit dieser vollen Kenntnis der Eigenschaften der neuen Teilchen schließlich nachrechnen, ob unter den Bedingungen, die kurz nach dem Urknall herrschten, die richtige Menge Dunkler Materie erzeugt worden wäre und bis heute überlebt hätte. Wenn das Bild konsistent herauskommt, können wir ziemlich sicher sein, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Verstärkung durch einen Linearcollider

Wie schon angedeutet, ist es noch vergleichsweise einfach, am LHC die Existenz von neuen – zum Beispiel supersymmetrischen Teilchen – nachzuweisen. Viel schwieriger sind präzise quantitative Messungen, wie die Bestimmung der Massen der neuen Teilchen. Daher hoffen die Teilchenphysiker mittelfristig auf Schützenhilfe von einem weiteren Beschleuniger, der technologisch höchst anspruchsvoll ist und sich im Moment in der Planungsphase befindet, einem so genannten Linearcollider. Hier sollen Elektronen und deren Antiteilchen (Positronen) mit Energien von mindestens 500 GeV (das ist etwa das Millionenfache des Energieäquivalents der Elektronenmasse) aufeinandergeschossen werden. Diese Energie ist etwa fünf Mal so groß wie der bisherige Weltrekord für Elektronen. Die Ereignisse, die an solchen Beschleunigern erzeugt werden, sind relativ einfach und sauber zu interpretieren, und Untergrundprozesse sind viel seltener als am LHC. Daher werden an dieser Maschine die Eigenschaften vieler neuer Teilchen, die am LHC schon entdeckt wurden, direkt und sehr präzise messbar sein, auch ohne irgendwelche theoretischen Modelle zugrunde legen zu müssen.

Doch ist damit das Rätsel der Dunklen Materie sicher gelöst? Sind zum Beispiel die an den Beschleunigern erzeugten Kandidaten für die Teilchen der Dunklen Materie wirklich stabil? Wir sehen ja nur, dass sie lang genug leben, um nicht bereits auf ihrem Weg aus dem Detektor hinaus zu zerfallen. Aber überleben sie auch 14 Milliarden Jahre, das Alter des Universums? Oder besteht gar die Dunkle Materie aus mehreren Komponenten, von denen wir gerade mal eine gefunden haben?

Gemeinsam stark

Diese Fragen können nur dann zufriedenstellend beantwortet werden, wenn alle an einem Strang ziehen. Die Experimente an großen Teilchenbeschleunigern liefern einen kompletten Satz von neuen Teilchen mit allen Eigenschaften, zumindest im Rahmen der zu den Beobachtungen passenden theoretischen Modelle. Sie können aber nicht zweifelsfrei die Verbindung zur Dunklen Materie herstellen. Die Experimente tief unter der Erde, die direkt nach Stößen der Teilchen der Dunklen Materie mit Atomkernen fahnden, messen umgekehrt direkt die Eigenschaften der Teilchen der Dunklen Materie (siehe Artikel „Der Dunklen Materie auf der Spur: Hinsetzen und Warten“). Sie können aber nichts über mögliche schwerere, instabile Teilchen jenseits des Standardmodells aussagen. Sie sehen nur einen winzigen Ausschnitt des großen Bildes. Das gilt ebenso auch für die astrophysikalischen Experimente zur Suche nach zerstrahlender Dunkler Materie im Weltall (siehe Artikel „Dunkle Materie: Spurensuche im Weltall“). Erst die Kombination der verschiedenen experimentellen Ansätze kann uns ein schlüssiges und in sich konsistentes Bild der Dunklen Materie und der damit verbundenen Elementarteilchenphysik liefern.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/experimente/teilchenbeschleuniger/cern-lhc/forschung-am-lhc/dunkle-materie-im-labor/