Mit Teilchenbeschleunigern auf der Suche nach Dunkler Materie

Thomas Lohse

Schematische Darstellung eines Teilchenzerfalls, in dem ein großes rotes Teilchen in zahlreiche kleine blaue und ein rotes Teilchen zerfällt.

Sie dominiert das Weltall, doch niemand hat sie je gesehen: Dunkle Materie. Sollte diese Materieform aus Teilchen bestehen, müsste man sie dann nicht auch mit Teilchendetektoren nachweisen und vielleicht sogar an großen Teilchenbeschleunigern künstlich herstellen können? Elementarteilchenphysiker fahren jetzt große Geschütze auf.

Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik führt den Aufbau der Materie auf einige wenige Bausteine zurück: drei Arten von Elektronen und Neutrinos und drei Paare von Quarks. Dazu kommen das Photon, das Gluon sowie das Z- und das W-Teilchen als Vermittler der Kräfte und das Higgs-Teilchen. Auch mit noch so präzisen und subtilen Messungen mit hochmodernen Teilchendetektoren gelang es bisher nicht, auch nur die kleinste Inkonsistenz im Standardmodell zu finden. Einziger Wermutstropfen ist, dass wir das Higgs-Teilchen noch nicht nachweisen konnten, da die Teilchenbeschleuniger bisher noch nicht genug Energie für dessen Erzeugung geliefert haben. Es besteht aber große Zuversicht, dass dies am Large Hadron Collider (LHC) am Forschungszentrum CERN bald nachgeholt wird.

Alles, was wir sehen – Menschen, Tiere, Pflanzen, Erde und Planeten – besteht aus Materieteilchen. Insgesamt gibt es zwölf Materieteilchen, die in sechs Quarks und sechs Leptonen unterteilt werden. Beide Gruppen bestehen aus Teilchen dreier Familien.

Elementarteilchen und Grundkräfte

Dann wären wir also fertig! Wenn es auch niemand ernsthaft versuchen würde, könnte man im Prinzip unsere größten technologischen Errungenschaften mit den Gesetzen des Standardmodells beschreiben. Ein Beispiel ist der Siliziumchip im Computer, der diesen Artikel gerade auf dem Bildschirm darstellt. Auch er besteht aus Atomen – also Kernen aus Quarks und Hüllen aus Elektronen–, alles zusammengeklebt durch die Kraftteilchen und mit Masse versehen durch das Higgs-Teilchen. Wunderbar! Doch leider viel zu voreilig.

Bausteine der Dunklen Materie

Aufnahme zahlreicher Sterne und Galaxien im Weltall: Schwarzer Hintergrund und viele sehr kleine und größere kreisförmige oder elliptische helle Flecken.

Eine Galaxie aus Dunkler Materie?

Lassen wir nämlich unseren Blick schweifen und schauen hinaus in das Weltall, dann stellen wir fest, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Klar, Siliziumchips sehen wir dort keine, aber es kommt viel schlimmer: Nur etwa zwanzig Prozent der Materie im Weltall scheinen der uns vertrauten Materie, bestehend aus Quarks und Elektronen, zu entsprechen. Der ganze riesige Rest passt nicht in das hochgelobte Standardmodell hinein. Obwohl das Universum hauptsächlich aus dieser exotischen Materie besteht, hat sie bis heute noch niemand gesehen. Sie leuchtet nicht und gibt sich überhaupt nur indirekt durch ihre Gravitationswirkung auf Sterne, Galaxien und auch durch das Verbiegen von Lichtstrahlen zu erkennen. Man nennt sie die Dunkle Materie.

Wenn die uns bekannte Materie aus elementaren Bausteinen besteht, dann ist das bei der Dunklen Materie vielleicht genauso. Was sind dann aber diese elementaren Bausteine? Können vielleicht Experimente der Elementarteilchenphysik dieses astrophysikalische Rätsel lösen? Und was ist eigentlich mit den manchmal ziemlich spekulativ anmutenden Ideen in der theoretischen Elementarteilchenphysik? Dort werden normalerweise jede Menge Teilchen vorhergesagt, die im Standardmodell nicht vorkommen und den Experimenten bisher durch die Lappen gegangen sind, einfach weil sie zu schwer sind. Ist die Dunkle Materie dort längst erfunden worden?

Was für Eigenschaften sollten potenzielle Dunkle-Materie-Teilchen denn den bisherigen Beobachtungen zufolge haben? Die Teilchen, aus denen die Dunkle Materie besteht, offenbaren sich nur indirekt durch ihre Gravitationswirkung. Abgesehen davon tauschen sie nur sehr schwache Kraftwirkungen mit anderen Teilchen aus, das heißt, sie müssen insbesondere elektrisch ungeladen sein und dürfen auch nicht der Farbkraft unterliegen, die die Quarks zusammenhält.

Darstellung zahlreicher Galaxien als helle, ungleichmäßig verteilte Punkte auf dunklem Grund innerhalb der möglichen Sichtkegel (Kreisausschnitte nach oben und unten von dem Zentrum ausgehend).

Ungleichmäßige Galaxienverteilung im Weltall

Obwohl die Dunkle Materie auch hier auf der Erde allgegenwärtig ist, können wir ihre Wirkung nicht spüren. Die Teilchen fliegen einfach durch den Siliziumchip in unserem Computer, durch uns selbst, durch die Erde, ja selbst durch die Sonne und noch viel größere Materiemengen hindurch, ohne eine Spur zu hinterlassen. Kurz gesagt, die Teilchen der Dunklen Materie sind „schwach wechselwirkende Teilchen“ oder auf Englisch „weakly interacting particles“ kurz WIPs.

Neutrinos als Lösung?

Tatsächlich enthält das Standardmodell solche Teilchen: die Neutrinos. Auch sie wurden am Anfang des Universums in großer Zahl erzeugt und schwirren überall durch das Weltall. Doch leider hilft das nicht wirklich weiter. Die Teilchen der Dunklen Materie haben nämlich eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Galaxien und Galaxienansammlungen gespielt, die wir im Weltall beobachten. Die einfachste Art und Weise, diese Strukturbildung zu verstehen, ist anzunehmen, dass sich die Teilchen der Dunklen Materie nur langsam bewegt haben.

Neutrinos sind aber extrem leichte Teilchen, die viel zu schnell waren – relativistisch, wie Physiker sagen. Sie hätten die Materiesuppe nur umgerührt und durchgemischt, aber große Verklumpungen verhindert. Die Teilchen der Dunklen Materie sollten im Gegensatz zu den Neutrinos daher eher eine große Masse besitzen. Wenn das stimmt, sind sie „schwach wechselwirkende massereiche Teilchen“ oder auf Englisch „weakly interacting massive particles“, kurz WIMPs.

Natürlich muss die Masse dieser WIMPs so groß und/oder die Wechselwirkung so schwach sein, dass Forscher sie bei den bisherigen Experimenten an großen Teilchenbeschleunigern nicht finden konnten, denn gesucht hat man dort nach ihnen genauso intensiv wie vergeblich. Andererseits müssen Masse und Stärke der Wechselwirkung gerade so geartet sein, dass die Dunkle Materie im frühen Universum, kurz nach dem Urknall, auch genau in der passenden Menge erzeugt wurde. Und schließlich dürfen diese Teilchen nicht wieder zerfallen, da sie bis heute, knapp 14 Milliarden Jahre nach ihrer Entstehung, immer noch vorhanden sind. Die WIMPs müssen also stabil sein. Somit wissen wir schon eine ganze Menge über die Eigenschaften dieser merkwürdigen Teilchen.

Kandidaten für Dunkle-Materie-Teilchen

Für die Teilchen der Dunklen Materie gibt es eine große Anzahl von Kandidaten aus verschiedenen mehr oder weniger spekulativen theoretischen Modellen. Einige davon sind besonders attraktiv, da sie nicht eigens zur Erklärung der Dunklen Materie erfunden wurden, sondern aus ganz anderen Überlegungen entstanden sind und die Dunkle Materie ganz nebenbei miterklären.

Die populärste Erweiterung des Standardmodells der Elementarteilchenphysik, die die Dunkle Materie erklären könnte, ist die sogenannte Supersymmetrie, die Materieteilchen und Kraftteilchen miteinander verknüpft. Sie sagt vorher, dass es zu jedem uns bekannten Materieteilchen ein neues kraftartiges Partnerteilchen und zu jedem uns bekannten Kraftteilchen ein neues materieartiges Partnerteilchen geben muss. Diese supersymmetrischen Partnerteilchen wurden zwar bisher noch nie beobachtet, aber das ist leicht erklärbar: Sie sind einfach zu schwer, um an den bisherigen Beschleunigeranlagen erzeugt worden zu sein.

Die aussichtsreichsten Kandidaten für die Dunkle Materie sind die supersymmetrischen Partner zum Photon, Z-Teilchen sowie zum Higgs-Teilchen, denen Wissenschaftler den schönen Namen Neutralinos gegeben haben. Der Name deutet es schon an: Sie sind neutral und haben nur eine schwache Wechselwirkung mit anderen Teilchen. Die Massen sind zwar nicht streng festgelegt, aber theoretisch werden sie im Bereich einiger zehn bis hundert Protonenmassen erwartet. Neutralinos sind damit echte WIMPs. Und sie sind durchaus in Reichweite der nächsten Generation von Teilchenbeschleunigern.

Eine ähnlich beliebte Erweiterung des Standardmodells geht davon aus, dass unsere vierdimensionale Welt (Höhe, Breite, Länge, Zeitdauer) Trug ist und dass es weitere Dimensionen gibt. Die nehmen wir allerdings nicht wahr, da sie auf kleiner Länge aufgewickelt sind. Das ist so ähnlich wie bei einem Strohhalm, der aus großer Entfernung betrachtet ja auch wie eine eindimensionale Linie aussieht, obwohl Ameisen auf seiner in Wirklichkeit zweidimensionalen Oberfläche herumkrabbeln können.

Solche Ideen wurden erstmals von den Physikern Theodor Kaluza und Oskar Klein in den Jahren 1921 und 1926 vorgeschlagen. In diesem Fall gibt es zu jedem gewöhnlichen Teilchen ebenfalls Partnerteilchen, diesmal allerdings nicht ein supersymmetrisches, sondern jeweils eine ganze Kette von Kaluza-Klein-Teilchen, die in den zusätzlichen, aufgewickelten Raumrichtungen mit zunehmender Taktfolge hin und her schwingen. Je schneller die Teilchen schwingen, desto schwerer sind sie.

Die Suche nach verdächtigen Teilchen

Wie erklären wir uns aber, dass es schwere Partnerteilchen gibt, die stabil sind und nicht einfach in die uns bekannten leichteren Teilchen zerfallen? Die einfachste Erklärung ist, dass die neuen Partnerteilchen auch eine neue Eigenschaft mitbringen – eine Quantenzahl, wie Physiker sagen, die nicht verloren gehen kann. Im Fall der Supersymmetrie hat man dieser Größe den Namen R-Parität gegeben, im Fall der Kaluza-Klein-Theorien heißt sie KK-Parität.

Wenn sich diese Größe bei Zerfällen nicht ändern kann, muss ein supersymmetrisches beziehungsweise Kaluza-Klein-Teilchen bei seinem Zerfall neben gewöhnlichen Teilchen auch wenigstens ein leichteres supersymmetrisches beziehungsweise Kaluza-Klein-Partnerteilchen erzeugen. Irgendeines der Partnerteilchen ist aber das leichteste seiner Art. Dieses ist somit stabil und wenn es nur einer schwachen Wechselwirkung unterliegt, hat man einen perfekten Kandidaten für die Teilchen der Dunklen Materie.

Wir können uns das am Beispiel einer kleinen Zahlenspielerei veranschaulichen. Symbolisieren wir Teilchen durch Zahlen, schwere Teilchen durch großen Zahlen und leichte durch kleine Zahlen. Nehmen wir an, die gewöhnlichen Teilchen entsprächen stets geraden Zahlen, zum Beispiel \(2, 4, 6,\)…, und die schwereren Partnerteilchen entsprächen stets ungeraden Zahlen, also beispielsweise \(11, 13, 15,\)... Lassen wir nun eine ungerade Zahl "zerfallen", zum Beispiel \(15 \rightarrow 13+2 \) oder \(15 \rightarrow 11+4 \) oder \(15 \rightarrow 11+2+2 \), ist es offensichtlich unmöglich, dass dabei nur gerade Zahlen entstehen, sondern es ist automatisch mindestens wieder eine ungerade dabei. Die Eigenschaft, ungerade zu sein, wird eine Zahl also beim „Zerfall“ nicht los. Und da in unserem Beispiel die Zahl 11 die kleinste ungerade Zahl ist, kann sie nicht weiter „zerfallen“; sie ist stabil und somit unser Kandidat für die Dunkle Materie.

Schematische Darstellung eines Teilchenzerfalls, in dem ein großes rotes Teilchen in zahlreiche kleine blaue und ein rotes Teilchen zerfällt. Dieses zerfällt wiederum in mehrere kleine blaue und ein rotes Teilchen, das – per Pfeil angedeutet – am rechten Bildrand aus dem Bild herausfliegt.

Zerfall eines Teilchens jenseits des Standardmodells

Elementarteilchenphysiker versuchen mit vielen unabhängigen und sich gegenseitig ergänzenden experimentellen Methoden, den WIMPs auf die Schliche zu kommen. Eines haben alle Ansätze gemein: Sie sind experimentell extrem schwierig. Aber es geht schließlich um keine Kleinigkeit, sondern um rund achtzig Prozent der Materie im Weltall!

  • Ansatz 1: Hinsetzen und Warten. Vorzugsweise setze man sich gut abgeschirmt tief unter die Erde, zum Beispiel in ein Labor unter einem hohen Berg. Vorher ist dort allerdings ein hinreichend großer, extrem empfindlicher Detektor zu bauen, der es gestattet, direkt den äußerst seltenen Stoß eines Teilchens der Dunklen Materie mit einem Atomkern des Detektormediums nachzuweisen und von Untergrundprozessen zu trennen.
  • Ansatz 2: Spurensuche im Weltall. Die Teilchen der Dunklen Materie könnten paarweise zerstrahlen, besonders in Gravitationszentren im Weltall, wo die Dunkle Materie klumpen sollte. Dabei entstehen unter anderem hochenergetische Photonen und Neutrinos, die idealen Botenteilchen, die uns direkt aus der Richtung der Gravitationszentren erreichen, aber auch Antimaterieteilchen, die aus allen Richtungen auf die Erde einströmen.
  • Ansatz 3: Künstliche Dunkle Materie. Wenn die hohe Energiedichte am Anfang des Universums Dunkle Materie erzeugen konnte, müsste das den Forschern eigentlich mit hinreichend großen Teilchenbeschleunigern auch gelingen. Am LHC am CERN werden Protonen bei einer Energie zur Kollision gebracht, die die bisher erreichten Energien um ein Vielfaches übersteigt. Die Detektoren sind in der Lage, die äußerst seltenen Ereignisse mit WIMPs aus dem überwältigenden Untergrund anderer Ereignisse herauszufischen – wie die sprichwörtliche Nadel aus einem ganzen Gebirge von Heuhaufen.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/universum/dunkle-materie/dunkle-materie-im-beschleuniger/