Teilchenkosmologie – Schnittstelle von Teilchenphysik und Kosmologie

Ilka Flegel, Wilfried Buchmüller

Kosmische Hintergrundstrahlung

Wie neueste Erkenntnisse zeigen, besteht das Universum nur zu vier Prozent aus herkömmlicher Materie – der Rest ist dunkle Materie und dunkle Energie. Antworten auf die Frage, was sich hinter diesem Rätsel verbirgt, könnten aus den Reihen der Teilchenphysik kommen. Denn diese kosmologischen Fragen sind eng mit den Erkenntnissen der Teilchenphysik verknüpft. Auch am Forschungszentrum DESY befassen sich die theoretischen Physiker damit.

Rätselhaftes Universum

Ein herausragender Erfolg der modernen Kosmologie ist die Bestimmung der Energiedichte des Universums anhand von Messungen des von Supernovae abgestrahlten Lichts und der Analyse der kosmischen Hintergrundstrahlung. Völlig überraschend ist die Zusammensetzung dieser Energiedichte: Die von Planeten, Sternen und interstellarem Gas her bekannte Materie – aus der auch wir Menschen bestehen – trägt nur vier Prozent dazu bei, während 96 Prozent „dunkel“ sind, Licht also weder absorbieren noch emittieren. Dieser dunkle Anteil offenbart sich in bisherigen Beobachtungen nur indirekt durch seine Gravitationswirkung. Dabei verhalten sich 23 Prozent wie dunkle Materie, die ähnlich der sichtbaren Materie räumliche Strukturen bildet. Der überwiegende Anteil von 73 Prozent, die dunkle Energie, ist dagegen räumlich homogen – sie bildet keine Strukturen, sondern durchdringt gleichmäßig den gesamten Raum – und führt durch ihren negativen Druck zur beschleunigten Ausdehnung des Universums (siehe auch Artikel „Dunkle Materie und dunkle Energie“).

Farblich „gesprenkeltes“ Abbild des Universums. Die verschiedenen Farben entsprechen jeweils unterschiedlichen Temperaturen der kosmischen Hintergrundstrahlung.

Kosmische Hintergrundstrahlung

Die Frage nach dem Ursprung der sichtbaren Materie sowie der Natur von dunkler Materie und dunkler Energie ist eng mit der Teilchenphysik und ihrer theoretischen Grundlage, der Quantenfeldtheorie, verknüpft. So sind Wechselwirkungen, die bestimmte Erhaltungssätze und Symmetrien verletzen – wie sie in Experimenten an Beschleunigern entdeckt wurden –, Voraussetzung für die Entstehung eines winzigen Überschusses von Materie gegenüber der Antimaterie im frühen Universum. Diesem wiederum haben wir es zu verdanken, dass im heutigen Universum überhaupt Materie existiert. Supersymmetrische Erweiterungen des Standardmodells der Teilchenphysik sagen die Existenz neuer Elementarteilchen – wie Neutralino, Axino oder Gravitino – voraus, die als Hauptbestandteile der dunklen Materie in Frage kommen. Die dunkle Energie dagegen könnte durch Quanteneffekte des Gravitationsfelds oder weiterer Felder erzeugt werden.

Der Zusammenhang zwischen Teilchenphysik und Kosmologie, der heute so viel Interesse hervorruft, gehört bereits seit langem zum Forschungsprogramm der DESY-Theoriegruppe. Schon Ende der 1980er Jahre wurden hier Ideen entwickelt, deren weitreichende Bedeutung erst ein Jahrzehnt später deutlich wurde – so zum Beispiel die Leptogenese zur Erklärung des Materie-Antimaterie-Ungleichgewichts im frühen Universum oder bestimmte Erweiterungen der Theorie der Gravitation, die heute eine wichtige Rolle in der Diskussion über die Natur der dunklen Energie spielen.

Mehr Materie als Antimaterie

Im frühen Universum war die Dichte von Quarks, Antiquarks, Leptonen, Antileptonen und Photonen etwa gleich groß. Heute beobachtet man dagegen ein Ungleichgewicht von Materie gegenüber der Antimaterie, die so genannte Baryonenasymmetrie. Diese entsprach damals einem winzigen Überschuss von Quarks im Vergleich zu Antiquarks und einem entsprechenden winzigen Überschuss von Leptonen im Vergleich zu Antileptonen. Eine solche Asymmetrie kann durch den Zerfall schwerer Neutrinos erzeugt werden, die durch ihre quantenmechanische Mischung mit leichten Neutrinos deren – in Experimenten zu Neutrinooszillationen beobachtete – sehr kleine Massen hervorrufen. Entscheidend ist dabei, dass der Zerfall dieser schweren Neutrinos die CP-Symmetrie verletzt, wodurch unterschiedliche Häufigkeiten von Leptonen und Antileptonen erzeugt werden (siehe auch Artikel „Antimaterie im Universum“ und „Neutrinos“).

Die Abbildung zeigt die berechnete Baryonenasymmetrie als Funktion der Masse M1 des zerfallenden schweren Neutrinos und einer effektiven Masse m(tilde)1 der leichten Neutrinos. Es ist ein Maximum zu sehen.

Berechnungen zur Materie-Antimaterie-Asymmetrie

Die Größe der erzeugten Baryonenasymmetrie ist abhängig von den Eigenschaften der Neutrinos, ihren Massen und Mischungen. Auch hierzu führt die DESY-Theoriegruppe detaillierte Studien durch. So ergibt sich zum Beispiel aus theoretischen Analysen, dass die Materie-Antimaterie-Asymmetrie im frühen Universum für bestimmte typische Massen der Neutrinos \(10^{-26}\) Sekunden nach dem Urknall erzeugt wurde. Damit eröffnet sich ein faszinierender Zusammenhang zwischen der Neutrinophysik und dem Frühstadium des Universums. Es ist äußerst bemerkenswert, dass der experimentelle Hinweis auf die Existenz von Neutrinomassen, der aus Experimenten zu Neutrinooszillationen gewonnen wurde, und der in theoretischen Studien ausgearbeitete Leptogenese-Mechanismus quantitativ konsistent sind. Dies hat zu einer Vielzahl von Untersuchungen geführt, die vor allem in supersymmetrischen Theorien auf die Entdeckung weiterer Prozesse hoffen lassen, die zum Verständnis des Materie-Antimaterie-Ungleichgewichts im Universum beitragen könnten.

Dunkle Materie

Ein mathematisches Konzept, das über das Standardmodell der Teilchenphysik hinausführt, ist die Supersymmetrie, die jedem Teilchen ein supersymmetrisches Partnerteilchen zuordnet (siehe Artikel „Die Teilchenverdopplerin: Supersymmetrie“). In vielen supersymmetrischen Erweiterungen des Standardmodells ist das leichteste dieser neuen Superteilchen (Lightest Supersymmetric Particle, kurz LSP) elektrisch neutral und stabil. Ein populärer Kandidat für das LSP ist das Neutralino, ein Superpartner von Photon, Z-Boson und Higgs-Teilchen. In den Experimenten am LHC sollten in diesem Fall charakteristische Ereignisse zu beobachten sein, die scheinbar das Gesetz der Energieerhaltung verletzen, da ein Teil der Gesamtenergie in Form von Neutralinos unbeobachtet aus den Detektoren entweicht. Über die schwache Kraft könnten Neutralinos der dunklen Materie auch an normaler Materie streuen und damit in Laborexperimenten direkt nachgewiesen werden.

Die Untersuchung des Leptogenese-Mechanismus weist auf eine weitere Möglichkeit hin: Die dunkle Materie könnte auch aus Gravitinos bestehen, den supersymmetrischen Partnerteilchen von Gravitonen, welche die Schwerkraft vermitteln, so wie Photonen die Träger der elektromagnetischen Kraft sind. Unter bestimmten Voraussetzungen könnten die Gravitinos in gewöhnliche Teilchen, insbesondere Photon-Neutrino-Paare, zerfallen. Experimentelle Hinweise zu dieser Hypothese könnten von Gammastrahlungsteleskopen und dem LHC kommen: Mit Satellitenexperimenten lässt sich der innerhalb und außerhalb der Milchstraße erzeugte Fluss von Photonen messen, der ein charakteristisches Energiespektrum besitzt. Dabei beobachtete das satellitenbasierte Gammastrahlungsteleskop EGRET Ende der 1990er Jahren eine Anomalie im Photonenfluss. Diese lässt sich mit dem von der Gravitino-Hypothese vorhergesagten Effekt erklären. Falls diese Hypothese tatsächlich stimmt und die dunkle Materie aus Gravitinos besteht, sollte auch das im Juni 2008 gestartete Weltraumteleskop Fermi Gamma-ray Space Telescope (früher GLAST genannt) in den nächsten Jahren ein Signal beobachten; und am LHC sollten charakteristische Zerfälle anderer schwerer Superteilchen entdeckt werden. Damit könnte es also sein, dass das Geheimnis der dunklen Materie innerhalb der nächsten Jahre aufgeklärt wird. Auf der Suche nach der „Weltformel“ wäre damit ein wichtiges Etappenziel erreicht.

 

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/bausteine/teilchenkosmologie/