„Kontinuierlich Spuren von Teilchen aufzeichnen”

Katharina Luckner

Das Bild zeigt den Spurdetektor von Innen.

Piotr Gasik

Mit dem Large Hadron Collider am Forschungszentrum CERN untersuchen Forscher die kleinsten Bausteine der Materie, indem sie Teilchen bei extrem hohen Energien zusammenstoßen lassen. Damit zukünftig noch mehr Kollisionen in dem Teilchenbeschleuniger stattfinden können, wird er seit Beginn dieses Jahres bis 2020 ausgebaut. Auch das Experiment ALICE – kurz für A Large Ion Collider Experiment – wird umgebaut. Bislang kollidieren dort rund 8000 Bleikerne pro Sekunde miteinander – künftig sollen es 50 000 sein. Wie das möglich ist, erklärt Johanna Stachel von der Universität Heidelberg im Interview mit Welt der Physik.

Das Bild zeigt die Wissenschaftlerin Johanna Stachel.

Johanna Stachel

Welt der Physik: Was erforschen Sie mit dem Experiment ALICE am LHC?

Johanna Stachel: Am Experiment ALICE untersuchen wir besondere Materiezustände, wie sie vermutlich kurz nach dem Urknall vorherrschten. Denn Bruchteile von Sekunden nach dem Urknall existierten noch keine Atome und damit auch keine Materie, wie wir sie kennen. Stattdessen bewegten sich die elementaren Bauteile der Materie – die Quarks und Gluonen – frei umher. Und ein solches Quark-Gluon-Plasma erzeugen wir am LHC mithilfe von Blei-Atomkernen, die wir kollidieren lassen. Das Quark-Gluon-Plasma existiert nicht lange: Wie im frühen Universum kühlt es sehr schnell ab, dehnt sich aus und seine Bestandteile setzen sich wieder zur uns bekannten Materie zusammen. Mithilfe der ALICE-Detektoren untersuchen wir, welche Teilchen bei diesem Übergang zur normalen Materie entstehen und wann genau dieser Phasenübergang stattfindet.

Der LHC ist momentan außer Betrieb. Wie kommt es dazu und was bedeutet das für die Experimente?

Man möchte im LHC höhere Kollisionsraten erzielen: Vor der Pause konnte der LHC beispielsweise etwa 8000 Kollisionen von Bleikernen pro Sekunde erzeugen. Nach der Pause sollen es 50 000 Kollisionen pro Sekunde sein. An diese neuen Bedingungen müssen wir jetzt das ganze Experiment anpassen. Dazu kommt, dass wir mit ALICE von den 8000 Kollisionen bisher nur die Daten von etwa 200 bis 400 Kollisionen pro Sekunde aufzeichnen konnten. Nach der Betriebspause wollen wir die Daten für alle 50 000 Kollisionen aufzeichnen – das ist eine extrem große Herausforderung.

Wie müssen Sie ALICE verändern, um das zu schaffen?

Wir arbeiten gerade an zwei fundamentalen Veränderungen, die uns das ermöglichen sollen. Zum einen statten wir den Spurdetektor mit neuer Technologie und neuen Materialien aus. Diese sogenannte Time Projection Chamber – kurz TPC – ist das zentrale Messinstrument von ALICE. Darin lassen sich die Teilchen nachweisen, die beim Übergang vom Quark-Gluon-Plasma zur normalen Materie entstehen. Zum anderen werden wir die Datenaufzeichnung verändern. Denn mit unseren heutigen Methoden können wir nicht mit den riesigen Datenmengen umgehen, die bei 50 000 Kollisionen entstehen. Alleine die TPC wird 3,4 Terabyte an Daten pro Sekunde liefern, die auf etwa 100 Gigabyte reduziert werden müssen.

Warum muss der Spurdetektor dafür erneuert werden?

Die TPC ist ein Gasdetektor. Indem die Teilchen ein Gas entlang ihrer Flugbahn ionisieren – also Elektronen aus den Gasatomen herauslösen – hinterlassen sie Spuren. Die freien Elektronen driften in einem elektrischen Feld zu den Enden der Kammer. Dort wird zunächst die Anzahl der Elektronen im Gas vervielfacht und dieses Signal dann vom Detektor aufgezeichnet. Allerdings entstehen bei der Verstärkung nicht nur Elektronen, sondern auch Ionen. Damit diese nicht die Spuren nachfolgender Kollisionen verfälschen, fangen wir sie ab. Bisher haben wir dafür ein feinmaschiges Drahtgitter verwendet, das sich mit einer bestimmten Frequenz öffnen und schließen lässt, sodass die langsameren Ionen von den schnelleren Elektronen getrennt werden. Doch das schränkt die Anzahl an Kollisionen ein, die wir aufzeichnen können.

Wie werden Sie dieses Problem lösen?

Wir werden einen alternativen Ansatz verwenden, um die Signale zu verstärken – einen sogenannten Gas Electron Multiplier. Dieses Instrument besteht aus dünnen, isolierenden Folien, die wiederum mit einem leitenden Material beschichtet sind und viele kleine Löcher haben. Wir haben experimentell herausgefunden, dass wir mit vier Lagen in einer bestimmten Anordnung der Löcher unser gewünschtes Ergebnis erzielen: Das Signal wird verstärkt, die Elektronen werden durchgelassen und 99 Prozent der Ionen abgefangen. Damit lassen sich dann zukünftig kontinuierlich Spuren von Teilchen in der TPC aufzeichnen.

Das Bild zeigt den Spurdetektor des ALICE-Experiments von außen. Vor dem Detektor steht ein Team aus vier Wissenschaftlern.

TPC

Und wie werden Sie mit den Datenmengen aus den 50 000 Kollisionen umgehen?

Wir nehmen schon jetzt mehrere Gigabyte pro Sekunde an Daten während des Experiments auf. Da wir bereits bei einer hundertfachen Kollisionsrate nicht mehr mit der Datenmenge umgehen könnten, müssen wir zukünftig die Daten teilweise schon vor dem Speichern analysieren. Wir arbeiten momentan an Methoden, mit denen sich die Spuren bereits während des Experiments rekonstruieren lassen, um Metadaten, wie den Ort, den Krümmungsradius und den Grad der Ionisation aufzuzeichnen. Dafür eignen sich Grafikprozessoren, wie man sie etwa von einer PlayStation kennt. Während wir die neuen Kammern des Spurdetektors schon gebaut und fast fertig ausgestattet haben, steht uns dafür noch einige Arbeit bevor.

Welche Ergebnisse versprechen Sie sich von ALICE nach dem Umbau?

Wenn wir 50 000 Kollisionen pro Sekunde aufzeichnen und auswerten können, werden wir Teilchen, die nur selten im Quark-Gluon-Plasma oder beim Phasenübergang entstehen, viel öfter beobachten. Außerdem lässt sich dann nicht nur eine Aussage darüber treffen, wie oft ein Teilchen produziert wird, sondern auch wie dessen Impulsverteilung aussieht oder ob es mit der Produktion anderer Teilchen korreliert. Nach dem Umbau werden wir auch Teilchen mit sehr geringer Energie detektieren können. Zudem sind die neuen Detektoren leichter, dünner und effizienter – wir brauchen also weniger Material und können alle Spuren mit einer größeren Genauigkeit messen.

Welche Möglichkeiten bietet diese zweijährige Pause generell für die Forschung am LHC?

Der Umbau findet nicht an allen Experimenten im gleichen Maße statt. ALICE und LHCb werden jetzt einem Hauptupgrade unterzogen, bei ATLAS und CMS ist das erst in der nächsten längeren Pause geplant. An ALICE zeigt sich, welchen großen technologischen Fortschritt wir gemacht haben. Denn das Experiment wurde bis zum Jahr 2000 entwickelt, bis 2009 gebaut und in den seither vergangenen Jahren ist einiges passiert: Uns stehen ganz neue Technologien zur Verfügung. Und wir haben natürlich auch an Erfahrung gewonnen – wir wissen, wie die Kollisionen aussehen, welche Teilchen entstehen und wie wir unsere Messtechnik dementsprechend verbessern können. Und genau das setzen wir jetzt um.


Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert das Projekt „Ausbau von ALICE am LHC“ im Zeitraum von Juli 2018 bis Juni 2021 mit rund 8,9 Millionen Euro.

Fördersumme: 8 917 359 Euro

Förderzeitraum: 01.07.2018 bis 30.06.2021

Förderkennzeichen:  05P18VTCA1, 05P18RFCA1, 05P19RFCA2, 05P19RFCA1, 05P19PDCA1, 05P19VHCA1, 05P18WOCA1, 05P19WOCA1, 05P18PBCA1, 05P18WRCA1, 05P19PMCA1

Beteiligte Institutionen: Universität Tübingen, Universität Frankfurt am Main, Universität Bonn, Universität Heidelberg, Technische Universität München, Universität Bielefeld, Universität Regensburg, Universität Münster

Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/bmbf/physik-der-kleinsten-teilchen/kontinuierlich-spuren-von-teilchen-aufzeichnen/