„Eine Quantenversion des Zwillingsparadoxons“

Kim Hermann

Das Bild zeigt zwei Pfade, auf denen sich der quantenmechanische Zwilling gleichzeitig bewegt. Die Pfade treffen sich anschließend wieder und der Zeitunterschied entlang der zwei Pfade lässt sich messen.

Alexander Friedrich/Universität Ulm

Albert Einsteins Relativitätstheorie hat weitreichende Folgen – so sind Zeit und Raum nicht mehr absolut, sondern hängen vom jeweiligen Betrachter und dessen Bewegung ab. Eindrucksvoll zeigt das ein Gedankenexperiment von unterschiedlich schnell alternden Zwillingen. Ein Team von Wissenschaftlern überlegte sich nun eine quantenmechanische Version dieses Zwillingsparadoxons. Wie sich das neue Gedankenexperiment überprüfen lässt, erklärt Sina Loriani von der Universität Hannover im Interview mit Welt der Physik.

Welt der Physik: Mit welchem Phänomen der Zeit beschäftigen Sie sich?

Sina Loriani: In unserem alltäglichen Leben haben wir den Eindruck, dass Zeit überall und für jeden gleich schnell vergeht. Doch Einstein hat mit seiner Relativitätstheorie gezeigt, dass der absolute Verlauf der Zeit nur eine Illusion ist. Tatsächlich ticken Uhren unterschiedlich schnell, je nachdem, wo sie sich befinden und mit welcher Geschwindigkeit sie sich relativ zueinander bewegen. Diese sogenannte Zeitdilatation ist allerdings so gering, dass sie im Alltag unbemerkt bleibt. Ein Gedankenexperiment – das sogenannte Zwillingsparadoxon – hilft dabei, die Folgen der Zeitdilatation dennoch greifbar zu machen.

Eine grafische Gegenüberstellung des Zwillingsparadoxons und seiner quantenmechanischen Abwandlung. Die linke Grafik stellt das klassische Zwillingsparadoxon dar, während die rechte Grafik die Quantenversion des Zwillingsparadoxons zeigt. Auf der x-Achse ist der Raum und auf der y-Achse ist die Zeit aufgetragen. Die Grafiken stellen durch unterschiedlich stark alternde Männer dar, wie schnell die Zeit entlang verschiedener Pfade durch den Raum vergeht.

Das Zwillingsparadoxon und seine quantenmechanische Abwandlung

Worum geht es bei dem Zwillingsparadoxon?

Ein Zwillingspaar wird voneinander getrennt und anschließend wieder vereint: Während sich der eine Zwilling auf eine Reise durch das Weltall begibt, bleibt der andere Zwilling auf der Erde zurück. Nun kommt die Zeitdilatation ins Spiel: Laut der Speziellen Relativitätstheorie vergeht die Zeit nämlich umso langsamer, je schneller sich ein Objekt bewegt. Daher vergeht die Zeit für den Zwilling in der Rakete langsamer. Bei seiner Rückkehr wird er feststellen, dass er weniger stark gealtert ist als sein Bruder, der auf der Erde zurückgeblieben ist.

Gibt es außer der Geschwindigkeit noch andere Ursachen für eine Zeitdilatation?

Ja, neben der kinetischen Zeitdilatation aufgrund von Bewegung gibt es noch die gravitative Zeitdilatation, die durch Schwerefelder hervorgerufen wird. Den Einfluss der Schwerkraft auf die Zeit beschreibt Einstein in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie: Je tiefer man sich in einem Schwerefeld befindet, desto langsamer vergeht die Zeit. Dieser Effekt lässt sich nicht nur messen, er ist sogar grundlegend für die Technik unseres alltäglichen Lebens. Die Positionsbestimmung durch GPS beispielsweise funktioniert nur, wenn Effekte der gravitativen und der kinetischen Zeitdilatation berücksichtigt werden. Zum einen befinden sich die Satelliten viel weiter außerhalb des Erdschwerefelds und ihre Zeit vergeht damit schneller als die Zeit auf der Erdoberfläche. Zum anderen verlangsamt die schnelle Bewegung der Satelliten ihre Zeit – jedoch nicht stark genug, um den Effekt der gravitativen Zeitdilatation auszugleichen.

Warum haben Sie sich nun mit dem Zwillingsparadoxon beschäftigt?

Wir haben das über hundert Jahre alte Zwillingsparadoxon abgewandelt und es im Rahmen der zweiten großen Theorie des 20. Jahrhunderts angewandt – der Quantenphysik. Gemäß der Quantenmechanik kann sich ein Objekt in der Quantenwelt an zwei Orten gleichzeitig befinden. Dieser eigenartige Charakter der Quantenphysik erlaubt es uns, das Zwillingspaar durch ein einziges Quantenobjekt – in unserem Fall eine Wolke aus Atomen – zu ersetzen. So lässt sich die Schnittstelle beider Theorien in einem Experiment erforschen.

Bau an der Atomfontäne in Hannover. Das 15 Meter hohe Gerüst wird mit einem Kran aufgebaut und erinnert an einen Turm. Im Hintergrund befindet sich die Universität Hannover.

Bau am Gerüst der entstehenden Atomfontäne in Hannover

Wie genau machen Sie das?

Bislang haben wir uns die Quantenversion des Zwillingsparadoxons nur in der Theorie überlegt. Allerdings arbeiten Forscher der Universität Hannover gerade an einem Aufbau, mit dem wir die Theorie experimentell überprüfen können – an einer der weltweit größten Atomfontänen. Dort können wir eine Atomwolke kontrolliert über eine Strecke von zehn Metern durch ein Rohr bewegen. Dazu kühlen wir die Atomwolke mithilfe von Lasern fast auf den absoluten Temperaturnullpunkt herunter und bringen sie in einen quantenmechanischen Überlagerungszustand. Die überlagerte Atomwolke bewegt sich dann gleichzeitig entlang zweier Pfade, sodass sich eine analoge Situation zu der Reise der beiden Zwillinge im Weltall ergibt. Wenn die Pfade wieder aufeinandertreffen, untersuchen wir die überlagerte Atomwolke und prüfen, ob es tatsächlich einen Zeitunterschied zwischen den zwei Pfaden gibt.

Welche der beiden Arten von Zeitdilatation wollen Sie damit messen?

Bisher war nicht klar, welche Art von Zeitdilatation man in solchen Interferenzexperimenten beobachten kann. Doch wir haben nun mit unseren theoretischen Berechnungen gezeigt, dass sich lediglich die kinetische Zeitdilatation messen lässt. Momentan forschen Wissenschaftler an Ansätzen, mit denen sie auch die gravitative Zeitdilatation untersuchen können.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/eine-quantenversion-des-zwillingsparadoxons/