„Wir brauchen eine neue Theorie“

Kim Hermann

Im Zentrum der Abbildung befindet sich ein dunkler Kreis. Um diesen Kreis herum leuchten unzählige Punkte. In der Nähe des Kreises verzerrt sich das Bild.

NASA/ESA/D. Coe, J. Anderson/R. van der Marel (STScI)

Die Vorhersagen der Allgemeinen Relativitätstheorie haben sich unzählige Male bestätigt. Doch auch Einsteins Theorie hat ihre Grenzen: Vorgänge, bei denen sich sehr große Massen auf sehr kleinen Skalen konzentrieren – etwa im Innern von Schwarzen Löchern oder beim Urknall – kann sie nicht mehr korrekt beschreiben. Denn hier spielen nicht nur Effekte der Gravitation eine zentrale Rolle, sondern auch Effekte der Quantenphysik. Daher forschen Physiker an einer neuen Theorie, in der auch Raum und Zeit ein quantenmechanisches Verhalten zeigen. Welche Ansätze die Forscher verfolgen und wie man diese experimentell überprüfen könnte, berichtet Sabine Hossenfelder vom Frankfurt Institute for Advanced Studies im Interview mit Welt der Physik.

Welt der Physik: Was beschreibt die Allgemeine Relativitätstheorie?

Porträt der Wissenschaftlerin Sabine Hossenfelder

Sabine Hossenfelder

Sabine Hossenfelder: Bis ins 19. Jahrhundert sahen Wissenschaftler Raum und Zeit als einen starren Rahmen an, in dem sich alle physikalischen Phänomene abspielen. Doch in Albert Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie nehmen Raum und Zeit eine vollkommen andere Rolle ein: Sie sind nicht starr, sondern können sich – ähnlich wie ein Trampolin – durch massereiche Objekte krümmen. Diese Krümmung beeinflusst wiederum die Bewegung der Objekte. So lässt sich auch die Gravitation auf eine vollkommen neue Art und Weise verstehen: Wie zwei Bälle auf einem Trampolin, die das Trampolin krümmen und zueinander rollen, krümmen auch massereiche Objekte den Raum und die Zeit und bewegen sich daher aufeinander zu. Das kann man als anziehende Kraft zwischen zwei Massen deuten – der Ursprung liegt aber in der Krümmung von Raum und Zeit.

Welche Phänomene lassen sich mit dieser Theorie verstehen?

Die meisten alltäglichen Beobachtungen, wie etwa der freie Fall von Objekten auf der Erdoberfläche aber auch die Bewegung der Himmelskörper, lassen sich mit der klassischen Mechanik gut beschreiben. Doch Phänomene wie etwa Gravitationswellen tauchen erst in der Allgemeinen Relativitätstheorie auf – als Stauchung und anschließende Streckung von Raum und Zeit. Auch Schwarze Löcher können wir erst mithilfe der Allgemeinen Relativitätstheorie beschreiben. Problematisch wird es, wenn man ins Innere von Schwarzen Löchern blickt: Dort wird die Krümmung des Raumes laut der Allgemeinen Relativitätstheorie nämlich unendlich groß – doch das ergibt physikalisch keinen Sinn.

Was bedeuten diese Unendlichkeiten?

Auch in anderen Theorien tauchen solche Unendlichkeiten auf. Beschreibt man in der Hydrodynamik etwa die Form eines Wassertropfens, ist die Krümmung der Wasseroberfläche an der Spitze des Tropfens unendlich groß. Die Unendlichkeit weist darauf hin, dass die Theorie in dem Bereich nicht mehr gültig ist. Das Problem: In der Hydrodynamik nimmt man vereinfacht an, dass Wasser eine zusammenhängende Flüssigkeit ist. Das funktioniert auf größeren Skalen prima, doch die Spitze eines Wassertropfens ist winzig – und hier muss man berücksichtigen, dass der Tropfen aus einzelnen Atomen besteht. Wissenschaftler gehen davon aus, dass es sich mit der Allgemeinen Relativitätstheorie ähnlich verhält: Die Unendlichkeit zeigt, dass wir eine genauere Beschreibung von Raum und Zeit brauchen.

Wie könnte so eine neue Beschreibung aussehen?

In der Allgemeinen Relativitätstheorie wird die Krümmung von Raum und Zeit durch Materie verursacht. Das kann ein großes Objekt wie beispielsweise ein Stern sein, aber auch jedes noch so kleine Teilchen – wie beispielsweise ein Elektron – krümmt Raum und Zeit. Nun haben Wissenschaftler im Lauf des 20. Jahrhunderts herausgefunden, dass diese kleinsten Teilchen besondere Eigenschaften haben. Ihr Verhalten wird durch die Quantenphysik beschrieben: Sie können sich etwa an zwei Orten gleichzeitig befinden. Doch was in diesem Überlagerungszustand mit der Krümmung von Raum und Zeit passiert, ist unklar. Wissenschaftler vermuten, dass Raum und Zeit selbst Quanteneigenschaften besitzen und forschen nun schon seit den 1930er-Jahren an möglichen Theorien der Quantengravitation.

Welche möglichen Theorien gibt es?

Die Gleichungen, mit denen man etwa die Quanteneigenschaften von Elektronen beschreibt, lassen sich nicht auf die Gravitation übertragen. Daher entwickeln Physiker vollkommen neue Ideen. Ein Ansatz ist es, extrem kleine räumliche oder zeitliche Skalen zu vermeiden – und damit auch die Unendlichkeiten. So kommen beispielsweise in der Stringtheorie, der wohl populärsten Theorie der Quantengravitation, gar keine punktförmigen Objekte mehr vor: Elementarteilchen werden nicht mehr als Punkte, sondern als kleine Fäden – sogenannte Strings – beschrieben. Zudem müssen gemäß der Stringtheorie zehn Dimensionen existieren, während man in den etablierten Theorien von nur vier Dimensionen, also drei räumlichen und einer zeitlichen, ausgeht. Auch andere Ansätze, wie etwa die Schleifenquantengravitation, vermeiden beliebig kleine Skalen. Einen alternativen Weg verfolgt die asymptotisch sichere Gravitation. Diese Theorie verzichtet auf die Einführung von zusätzlichen Konzepten und Dimensionen und versucht, die quantenmechanischen Eigenschaften von Raum und Zeit mithilfe von neuen mathematischen Methoden zu beschreiben.

Wie lässt sich feststellen, welche der Theorien die richtige ist?

All diese Theorien versuchen, die Inkonsistenzen der Allgemeinen Relativitätstheorie zu beheben. Doch es lässt sich nicht alleine mit mathematischen Überlegungen herausfinden, welche Theorie tatsächlich unser Universum beschreibt. Wir brauchen Experimente, mit denen wir die Vorhersagen der unterschiedlichen Theorien testen können.

Gibt es solche Experimente bereits?

Viele Ansätze beschreiben die Quanteneffekte von Raum und Zeit mithilfe eines neuen Teilchens – des Gravitons. Ähnlich wie Photonen die elektromagnetische Kraft vermitteln, überträgt das Graviton die gravitative Kraft zwischen Objekten. Dieses Quantenteilchen hat je nach Theorie unterschiedliche Eigenschaften. Üblicherweise suchen Wissenschaftler mit großen Beschleunigern nach neuen Teilchen. Doch da die Gravitation – verglichen etwa mit der elektromagnetischen Kraft – sehr schwach ist und Gravitonen daher auch nur sehr schwach mit Materieteilchen wechselwirken, benötigt es immense Energien, um ausreichend Gravitonen für einen Nachweis zu erzeugen. Ein Teilchenbeschleuniger mit den aktuell verfügbaren Technologien müsste dafür so groß sein wie unsere Milchstraße. Diese Methode scheidet also erst einmal aus.

Gibt es eine Alternative, um solche extremen Energien zu erreichen?

Im Universum treten diese hohen Energien zwar ganz natürlich auf, etwa im Innern von Schwarzen Löchern oder kurz nach dem Urknall. Doch ins Innere von Schwarzen Löchern können wir nicht schauen, denn selbst Licht kann der starken Krümmung von Raum und Zeit nicht entkommen. Und auch über die Gegebenheiten ganz am Anfang des Universums wissen wir nur sehr wenig. Einen Einblick könnten Gravitationswellen aus dieser frühen Phase des Kosmos liefern. Wissenschaftler hoffen, solche Wellen mit neuen Instrumenten nachweisen zu können – bisher gibt es dazu allerdings noch keine Messdaten.

Lassen sich die Effekte der Quantengravitation auch noch auf andere Weise beobachten?

Ja, um Quanteneigenschaften von Raum und Zeit nachzuweisen, muss nicht zwangsweise das Graviton entdeckt werden. Auch Experimente bei niedrigeren Energien könnten Auswirkungen der Quantengravitation zeigen. Die Idee ist es, ein kleines Objekt in einen quantenmechanischen Überlagerungszustand zu bringen und dabei zu untersuchen, wie sich die Krümmung von Raum und Zeit während dieser Überlagerung verhält. Um ein messbares Gravitationsfeld zu erzeugen, muss das Objekt allerdings mindestens ein Milligramm wiegen. Derzeit lassen sich so große Objekte noch nicht in einen Überlagerungszustand bringen – doch die Forschung auf diesem Gebiet schreitet schnell voran.

Wann rechnen Sie mit Ergebnissen?

Es ist durchaus denkbar, dass wir in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren mögliche Quanteneffekte von Raum und Zeit mit einem solchen Experiment beobachten können. Eventuell ließe sich dann entscheiden, welche der Theorien die richtige ist. Möglicherweise entdecken wir aber auch eine ganz neue Theorie, über die bisher noch niemand nachgedacht hat.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/gebiet/universum/wir-brauchen-eine-neue-theorie/