Kausalität und die Grenzen der Vorhersagbarkeit

Siegfried Großmann

Lufttemperatur

Das In-Beziehung-Setzen von Ursachen und Wirkungen, also das Ausmachen von Kausalität, ist für den Physiker wissenschaftlicher Alltag. Doch selbst wenn wir genau wüssten, welche Folge eine jede Ursache hätte: Allwissend macht uns das nicht.

Vom Bild eines Lichtschalters zeigt ein Pfeil auf das Bild einer leuchtenden Glühbirne.

Ursache und Wirkung

Als Physiker versuchen wir permanent, aus unseren Beobachtungen zu lernen, wie man Ursachen so setzen kann, dass gewollte Wirkungen entstehen. Insoweit ist Physik geradezu instrumentalisierte Kausalität. Nun kann es zwar sein, dass wir durch das erfolgreiche Setzen solcher Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge unsere Vorstellung von Kausalität gegenüber anderen Definitionen dieses Begriffs physikspezifisch prägen, physikalische Kausalität also durch unser Tun quasi definieren. Das würde uns aber nicht einmal betrüben, wenn wir nur damit umzugehen versteh

Bewegungsgleichungen beschreiben die Entwicklung eines Systems

Unsere gewonnenen Einsichten schreiben wir als mathematisch formulierte Naturgesetze auf. Da ist einmal die klassische Mechanik der Bewegung von Körpern. Da ist zum anderen die Beschreibung durch Felder wie zum Beispiel das elektromagnetische Feld beim Elektromagnetismus oder das Schrödinger-Feld in der Quantentheorie. In beiden Fällen formulieren wir Bewegungsgleichungen in Form sogenannter Differentialgleichungen. Deren Lösungen machen Angaben darüber, was aus einem gegebenen Zustand zu einer gegebenen Zeit dann zu späteren Zeiten wird. In diesem Sinne liefern die Bewegungsgleichungen als solche par excellence kausale Beschreibung – und zwar alle Bewegungsgleichungen, auch die für das Schrödinger-Feld der Quantenmechanik.

Ich möchte mich im Folgenden auf die klassische Mechanik beschränken. Obwohl sie in unserem Bewusstsein wie auch in dem unserer Denker und Philosophen als der Repräsentant einer kausalen Welt gilt, möchte ich Ihnen zeigen, dass sie genauer betrachtet sehr viel bescheidenere Aussagen macht, dass sie Kausalität in der physikalischen Welt keineswegs experimentell sichert.

Mithilfe der Gleichungen der klassischen Mechanik beispielsweise lässt sich die gesamte Bewegung eines Körpers berechnen, wenn man nur weiß, an welcher Stelle er sich zu einer bestimmten Zeit befand und mit welcher Geschwindigkeit er sich in welche Richtung zu dieser Zeit bewegte.

Portrait eines Mannes mit gelockter schwarzer Perücke in neuzeitlichem Gewand.

Gottfried Wilhelm von Leibniz (1646–1716)

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) drückte das in seiner Schrift „Von dem Verhängnisse“ (1695) so aus: „Dass sich alles durch feststehende, unzweifelhafte Bestimmung weiterentwickelt, ist ebenso sicher wie dass 3 mal 3 gleich 9 ist. […] Wenn zum Beispiel eine Kugel im freien Raum auf eine andere Kugel trifft und wenn beider Größen und Geschwindigkeiten und Richtungen vor dem Stoß bekannt sind, dann können wir berechnen und vorhersagen, wie sie gestreut und welche Bahnen sie nach dem Stoß machen werden. Das folgt aus sehr einfachen Gesetzen, die auch gelten, wenn beliebig viele andere Kugeln oder Objekte vorhanden sind. Daraus erkennt man, dass alles in der ganzen weiten Welt mathematisch vorangeht, also unfehlbar, so dass, falls jemand hinreichende Kenntnis beziehungsweise Einsicht in die innere Struktur der Dinge und außerdem genug Erinnerungsvermögen und Intelligenz hätte, um alle Umstände in Betracht zu ziehen, er ein Prophet sein würde, der die Zukunft wie in einem Spiegel sähe.“ (Aus einer englischen Version zurückübersetzt.)

Solches wurde also schon lange vor Pierre Simon Marquis de Laplace (1749–1827) gesagt, dessen berühmter Dämon in diesem Zusammenhang gern zitiert wird.

Die praktische Alltagswichtigkeit solcher klassischen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge und der Möglichkeit, Wirkungen beziehungsweise Ereignisse vorherzusagen oder ungewünschte Geschehnisse zu vermeiden, ist offenkundig. Wir fahren bedenkenlos Auto, wir steigen in Flugzeuge, um zu fliegen, wir verwenden eine Vielzahl von technischem Gerät, starten Raketen, schicken etwa die Cassini-Huygens-Sonde unter subtiler Nutzung der Schwerefelder der zu passierenden Planeten zum Saturnmond Titan usw. Kausalität bedeutet insoweit Determiniertheit und damit Vorhersagbarkeit. Umgekehrt setzt Vorhersage kausales Geschehen voraus.

Grenzen der Vorhersagbarkeit

In einem Diagramm ist die mittlere Lufttemperatur von in Form eines andauerndes Auf-und-Abs zu sehen.

Mittlere Lufttemperatur der letzten Million Jahre

Manchmal allerdings scheint es ärgerliche Schwierigkeiten mit Kausalketten oder mit der Vorhersagbarkeit zu geben. Etwa beim Start von Raketen, wenn diese verunglücken, bei deren unerwartetem Verglühen bei der Rückkehr, bei der mangelhaften Vorhersage der zerstörerischen Bahn eines Hurrikans oder bei extremen Wetterereignissen. Noch deutlicher sind uns die Probleme bei langfristigen Vorhersagen bewusst, wie etwa bei der Klimaentwicklung.

Versagt die Kausalität hier also? Das glauben wir natürlich nicht, sonst würden wir ja nicht nach Ursachen suchen. Auch machte es dann keinen Sinn, politische Entscheidungen aus Einsichten in die Klimaentwicklung abzuleiten. Und obwohl es sich herumgesprochen hat, dass die Quantenmechanik keine im klassischen Sinne kausale Physik ist: Der Quantenmechanik werden wir ja die genannten Fälle mangelnder Vorhersagbarkeit oder nicht aufzeigbarer Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge kaum in die Schuhe schieben wollen.

Es gibt nun aber bei der als kausal be(vor-)urteilten klassischen Mechanik eine Bedingung, die sich als ernsthaft und einschränkend erweist: Wenn (!) man weiß, wo sich ein Massenpunkt zu einer gegebenen Zeit aufhält und welche Geschwindigkeit er hat, dann (!) kann man ausrechnen … Man weiß es aber eben nicht! Und zwar nicht nur in besonderen Ausnahmefällen nicht, sondern, wie jetzt zu überlegen sein wird, grundsätzlich nicht!

Ungenauigkeiten allerorten

Darf ich Sie beispielsweise fragen: Wo befinden Sie sich jetzt gerade, wie weit etwa von der Eingangstür entfernt? Ich selbst antworte so: Ungefähr 8 Meter. Na ja, 8 Meter und 55 Zentimeter. Dazu bedarf es dann schon eines Zollstocks. Noch genauer? Es ergibt sich 8 Meter und 55 Zentimeter und 3 Meter; statt 3 Meter könnten es allerdings auch 3,5 Meter oder 4 Meter sein. So ähnlich geht es uns und dem messenden Physiker immer, wenn man die Anfangswerte angeben will. Stets gibt es eine mehr oder weniger große Ungenauigkeit, gibt es einen Messfehler bei der Angabe des Ist-Zustandes.

Von links nach rechts längs einer Zeitachse sind drei Flächen zu sehen, welche die Ungenauigkeit in der Kenntnis des Zustands eines Systems beschreiben. Die Flächen nehmen an Größe und Komplexität ihrer Form zu.

Wachsende Ungenauigkeit

Mit dramatischen Konsequenzen! Wie die Abbildung dargelegt, müssen wir statt von einem einzigen konkreten Anfangswert richtiger von einem ganzen Bereich möglicher Anfangswerte ausgehen. Dieser ist nicht einmal genau abzugrenzen. Wir können bestenfalls ausschließen, dass wir außerhalb eines gewissen Gebietes starten. Ansonsten kennen wir die möglichen Anfangszustände nur mit einer gewissen Plausibilität innerhalb des Fehlerbereichs. Der Bereich der möglichen physikalischen Zustände wächst im Laufe der zeitlichen Entwicklung an, verformt sich auch. Er tut das nämlich unvermeidlich immer dann, wenn das konkret geltende Bewegungsgesetz der klassischen Mechanik zwei grundlegende Eigenschaften hat: Es ist erstens nichtlinear und zweitens intern expandierend. „Nichtlinear“ bedeutet: Die Wirkungsänderungen sind nicht einfach zu den Ursachenänderungen proportional, doppelte Ursache hat nicht doppelte Wirkung. Die Expansion wird durch einen oder mehrere positive sogenannte Lyapunov-Exponenten gekennzeichnet, die man aus den Bewegungsgleichungen berechnen kann. (Genau genommen sind es drei Eigenschaften: Hinzu kommt nämlich, dass der Phasenraum, in dem die Bewegung erfolgen kann, endlich ist.).

Aleksander Lyapunov (1857–1918) schrieb seine grundlegende Arbeit übrigens schon 1892. Abgesehen von „Spielzeug“-Beispielen wie z. B. bei der Differentialgleichung perfekter Schwingungen sind die klassisch-mechanischen Bewegungsgesetze in der Tat nichtlinear und intern expandierend. Insbesondere gilt das für das Gravitationsgesetz der Massenanziehung.

Die Lyapunov-Exponenten λ spielen eine wichtige Rolle, wenn man wissen will, wie es um die Vorhersagbarkeit eines Systems bestellt ist. Denn je größer sie (bzw. die Wachstumsfaktoren a = eλ) sind, desto kleiner ist die Zahl der Schritte, für die man mit einer bestimmten, gewünschten Genauigkeit Vorhersagen machen kann. Mithilfe der Lyapunov-Exponenten lässt sich zeigen, dass selbst eine Verdoppelung der Genauigkeit, was im allgemeinen bereits gewaltige Anforderungen (und Kosten) an die Messapparatur oder die Zahl der Messstationen usw. stellt, nur relativ schwach wirksam wird, indem sich je nach ursprünglicher Genauigkeit eine um vielleicht 10 Prozent bis 20 Prozent längere Vorhersagezeit ergibt (siehe Kasten Die Größe der Vorhersagezeit).

Was wir uns auf jeden Fall bewusst machen müssen: Kausalität hat in der klassischen Physik nur eine zeitlich beschränkte Reichweite und ist nur im Rahmen endlicher Fehler verifizierbar. Auch in der klassischen Mechanik sind strenge kausale Zusammenhänge nicht experimentell nachweisbar! Zwar sind die klassischen Bewegungsgesetze im Allgemeinen deterministisch (wie übrigens auch die der Quantenmechanik). Aber die Verknüpfung mit der realen physikalischen Welt ist wegen der unvermeidlichen Messfehler stets nur mit begrenzter Genauigkeit möglich. Deshalb kann der tatsächliche Zustand nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeitsverteilung innerhalb von Zustandsbereichen angegeben werden, wie eben auch in der Quantenmechanik. In der üblichen Diskussion wird dieser wichtige aber unvermeidliche Bestandteil der klassischen Physik oft ausgeblendet. Man beschränkt sich gerne ganz allein auf die Bewegungsgleichungen. In der Quantenmechanik hingegen wird gern der Aspekt der auch dort deterministischen Bewegungsgleichung für die Wellenfunktion, etwa die Schrödingergleichung, ausgeblendet und es werden allein die wahrscheinlichkeitsaussagenbasierte Interpretation und Verknüpfung mit der realen Welt betont.

Was gilt nun also? Ist die klassische Mechanik das Musterkind für Kausalität oder ist sie eine statistische Physik ohne (oder mit zumindest eingeschränkter) Kausalität? Verlässlichkeit versus Wahrscheinlichkeit? Die Beispiele zeigten, dass es offenbar beides gibt, in trauter Eintracht nebeneinander. Worin liegt der Denkfehler, wenn man sagt, die klassische Physik sei kausal? Ein Denkfehler, der offenbar nicht nur historisch ist? Offenbar sind es zwei Aspekte. Erstens: Die (irrige!) Vorstellung, es käme nur auf die Bewegungsgleichungen an; den Ist-Zustand kenne man doch sowieso hinreichend genau. Aber Letzteres ist eben nicht so. Zweitens: die (ebenfalls irrige) Vorstellung, es gäbe nur eine relevante Zeitskala, nämlich die den untersuchenden Menschen interessierende (tM). Sie beträgt je nach konkretem Fall Sekunden, Tage, Jahre oder Ähnliches.

Zeitskalen

Aber: Auch das Naturgeschehen hat seine eigenen Zeitskalen, nämlich die sogenannten Lyapunov-Zeiten tLyap (diese ergeben sich aus den Expansionsraten zu tLyap = λ-1). Diese Lyapunov-Zeit beträgt zum Beispiel beim Zwergplaneten Pluto ungefähr 30 Millionen Jahre. Bei einem Atom in der Luft ist sie dagegen winzig, gerade mal ≈10-10 Sekunden. Bei Luftströmungen misst sie Sekunden bis Tage.

Wir haben nun die beiden relevanten Zeitskalen tM und tLyap miteinander zu vergleichen. Drei Fälle sind möglich:

  1. Die Lyapunov-Zeit des untersuchten Systems ist sehr viel größer als die menschlich relevante Zeitskala (tLyap ≫ tM): Dann können wir uns in Gedanken die Messungenauigkeit schadlos immer kleiner vorstellen, weil dadurch die Vorhersagezeit nur noch größer würde, an der wir wegen ihrer Länge sowieso nicht interessiert sind. Selbst wenn sie in Gedanken unendlich würde, weil wir die Messungenauigkeit Null werden ließen, bemerkten wir das gar nicht. Deshalb betrachten wir in diesen Fällen das Geschehen (im Rahmen der akzeptierten Genauigkeit) als vorhersagbar, kausal.
  2. Die menschlich relevante Zeitskala ist sehr viel größer als die Lyapunov-Zeit des untersuchten Systems (tM ≫ tLyap): In diesem Falle ist Vorhersage nicht mehr möglich, ist der tatsächliche Verlauf vom erwarteten völlig verschieden. Wir beobachten statistisches, zufälliges Verhalten, da wir den tatsächlichen Anfangszustand eben nicht kennen.
  3. Die menschlich relevante Zeitskala ist in etwa so groß wie die Lyapunov-Zeit des untersuchten Systems (tM ≈ tLayp): Dann sind zwar keine genauen, aber doch ungefähre Vorhersagen möglich; es geht auch nicht ganz zufällig, statistisch, zu. Die Vorhersagen sind sogar durch Messfortschritte oder durch weniger anspruchsvolle Forderungen an die Vorhersagegenauigkeit zu verbessern. Ein gutes Beispiel hierfür sind die ja nur begrenzt möglichen Wettervorhersagen; kurz- und mittelfristig sind sie inzwischen ganz verlässlich.

Im Kern ist also Kausalität mit der klassischen Mechanik für eine reale Welt nicht nachweisbar. Es kommt auf die interessierende Zeit im Vergleich zur Vorhersagezeit an, ob wir ein Phänomen „praktisch“ als kausal, als in (manchmal hervorragender Näherung) vorhersagbar ansehen können, oder ob uns das Geschehen nicht vielmehr als völlig zufällig erscheint, oder schließlich als im Übergangsbereich liegend und deshalb durch Vergrößerung der Genauigkeiten als verbesserbar erfahren wird, also als weder kausal noch als statistisch. Die klassische Mechanik ist eben nicht nur eine Differentialgleichung; sie ist außerdem durch eine – messfehlerbehaftete – Vorgabe der Anfangswerte und durch die Rückübersetzung der Endwerte in nachmessbare Vorhersagen an die reale Welt anzukoppeln. Dadurch verliert sie ihren rein mathematischen, durch die Lösung von Differentialgleichungen bestimmten, kausalen Charakter, genauer, man kann diesen nicht mehr durch Experimente belegen.

Eine nur scheinbar kleine Anmerkung: In der Mathematik bedient man sich häufig eines Tricks, indem man kleine Abweichungen gegen Null laufen lässt und dann das Ergebnis berechnet. Diesen Schluss zieht man ohne weiteres Nachdenken gerne, aber leichtsinnigerweise auch für die klassische Mechanik. Physikalisch geht es aber leider nicht so. Denn wir müssen schon experimentell überprüfen, ob es wirklich für jeden Fehler klappt. Und in der realen Welt, also in der Physik, kann man das eben grundsätzlich nicht tun. Da kann es immer wieder passieren, dass bei größerer Genauigkeit der Messung neue, bisher nicht bemerkbare Einflüsse durchschlagen und die Vorhersage verändern. Zum Beispiel zeigen sich erst bei genauerem Hinsehen Abweichungen, die eine Erklärung verlangen, etwa dass ein bisher unbekannter Planet, später Pluto genannt, die Bahnen der bis dahin bekannten Planeten zwar nur wenig, aber bei ausreichender Genauigkeit dann doch nachweisbar beeinflusst. Oder: Sowohl die genaue Form wie auch die Art des Gesteins der Erdoberfläche führen zu kleinen Korrekturen in der lokalen Erdanziehung und beeinflussen dadurch ein wenig die Bewegungen im Schwerefeld. Oder es kommt bei sehr genauem Hinsehen sogar eine ganz neue Physik ins Spiel: Wir wissen seit etwa 80 Jahren, dass die klassische Mechanik für mikroskopisch genaue Messung expressis verbis tatsächlich nicht mehr korrekt ist, sie ihre Gültigkeit verliert. Dann gelten die Gesetze der Quantentheorie.

Fazit

Portrait eines bärtigen Mannes

James Clerk Maxwell (1831–1879)

Dass es mit der Kausalität und Vorhersagbarkeit nicht so einfach ist, wussten unsere Väter im Grunde auch schon. So schreibt etwa James Clerk Maxwell (1831–1879) schon auf den ersten Seiten seines Buches Matter and Motion (1877, Neuauflage 1920, Seiten 13/14):

„Es ist ein metaphysischer Grundsatz (doctrine), dass dieselben Vorgänger (same antecedents) stets dieselben Nachfolger (same consequences) haben. Niemand kann dies leugnen. Nur ist das nicht von viel Nutzen in dieser Welt, in der dieselben Vorgänger niemals wieder auftreten und nichts zweimal geschieht. Ein physikalischer Grundsatz verwandter Art lautet, dass ähnliche (like) Vorgänger stets ähnliche Nachfolger haben. Hier aber sind wir von Gleichheit (sameness) zu Ähnlichkeit (likeness) übergegangen, von absoluter Genauigkeit zu mehr oder weniger guter Näherung. Es gibt mancherlei Erscheinungen, bei denen ein kleiner Fehler in den Daten ein nur geringes Verschieben im Ergebnis bewirkt. Der Geschehensablauf heißt in diesen Fällen stabil. Es gibt aber auch andere Klassen von Phänomenen […]. In solchen Fällen können Einflüsse, deren physische Größe zu klein ist, um von irgendeinem endlichen Wesen bemerkt zu werden, Ergebnisse von größter Wichtigkeit hervorrufen.“

Immerhin ist das vor der Quantenmechanik gesagt worden und vor unserer heutigen Formulierung vom deterministischen Chaos, das die physikalische klassische Mechanik als das Duo von Bewegungsgleichung und Messfehler/Expansivität ansieht. Kausalität ist darin nur näherungsweise verifizierbar, wenn auch manchmal hervorragend gut. Für das alltägliche Leben reicht es dann meist aus, können wir auf das Paradigma Kausalität als ein höchst brauchbares Modell setzen.

Quelle

Der Artikel ist eine für Welt der Physik überarbeitete Version des Beitrages „Kausalität aus der Sicht eines Physikers“ aus den „Streitgespräche in den Wissenschaftlichen Sitzungen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften“, DEBATTE, Heft 5, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin 2007

Ein einfaches Klimamodell

In einem Diagramm sind 17 Datenpunkte zu sehen, die mit Linien verbunden sind. Es ist eine Auf-und-Abbewegung zu erkennen.

Einfaches Klimamodell 1

Wichtige Züge einer durch eine kausale Bewegungsgleichung determinierten und doch realiter nur begrenzt vorhersagefähigen klassischen Mechanik kann man sich schon an einfachen Modellen klar machen. So wollen wir die mittlere Lufttemperatur durch folgendes sehr einfache mathematische Modell beschreiben. Die den Zustand zu irgendeiner Zeit t kennzeichnende Zahl \(x_t\) möge stets zwischen 0 und 1 liegen. Das Bewegungsgesetz laute $$ x_{t+1} = 2 \cdot x_t \,\textrm{modulo}\,  1 $$, also man multipliziere den gegebenen Zustandswert xt einfach mit 2 und wenn das Ergebnis größer ist als 1, ziehe man einfach die 1 vor dem Komma ab, genannt modulo 1. Startet man zum Beispiel vom Anfangswert 0,2784, so ergibt sich der in der Abbildung gezeigte zeitliche Verlauf. Man kann ihn leicht (im Kopf) nachrechnen.

In einem Diagramm sind zwei Folgen von je 17 Datenpunkten zu sehen, die jeweils durch Linien verbunden sind. Es ist eine Auf-und-Abbewegung zu erkennen. Schon nach wenigen Schritten weichen die Datenpunkte der beiden Reihen stark voneinander ab.

Einfaches Klimamodell 2

Nun kann man den Anfangspunkt offensichtlich nicht auf 4 Stellen hinter dem Komma genau einzeichnen. Warum also nicht zum Beispiel auch mal mit 0,2783 beginnen? Das ist im Rahmen der Zeichengenauigkeit gar nicht unterscheidbar. Die Abbildung zeigt, dass sich zunächst derselbe Verlauf ergibt, die beiden Kurven dann aber mehr und mehr voneinander abweichen und sich schließlich völlig unterschiedlich entwickeln. Während zum Beispiel nach 10 Schritten die eine Kurve (rot) eine sehr heiße Phase anzeigt, markiert die andere (grün) nur eine Warm- oder Zwischeneiszeit. Nach 16 Schritten zeigt die rote Kurve eine Warmzeit an, während die grüne eine strenge Eiszeit verkündet. Und wenn Sie eine Vorhersage über das Gezeigte hinaus versuchen: Einerseits kann man ja ausrechnen, wie es weitergeht, nämlich nach obigem Gesetz. Wenn Sie es zu sagen versuchen, ohne zu rechnen, werden Sie sich schon nach wenigen Schritten erheblich irren. Noch schlimmer wäre es, wenn Sie statt der Multiplikation mit 2 etwa mit der Zahl Pi (π = 3,1415…) malzunehmen hätten. Das könnten Sie immer nur näherungsweise machen, da Sie ja schlecht mit einer unendlichstelligen Zahl exakt multiplizieren können. Dann würde allein durch die Rundungsfehler neue Ungenauigkeit in der Vorhersage entstehen, würde somit Kausalität verloren gehen!

Die Größe der Vorhersagezeit

Die gewünschte Genauigkeit kennzeichnen wir durch einen zugelassenen, tolerierbaren Fehler \(\epsilon_{tol}\). Je größer \(\epsilon_{tol}\), desto länger kann man vorhersagen. Je genauer der Ist-Zustand bekannt ist, je kleiner also der anfängliche Meßfehler \( \epsilon_{mess} \) ist, desto länger kann man vorhersagen. Grundsätzlich jedoch kann man die reale Ursache und die tatsächliche Wirkung nie genau miteinander verknüpfen, da man ja beide nicht genau kennt, nicht genau kennen kann – eben wegen der unvermeidlichen Messfehler!

Die Größe der Vorhersagezeit \(t_{\textrm{Vorhersage}}\) ergibt sich näherungsweise als Produkt aus zwei Faktoren: Einer ist systembedingt, \(t_{Lyap}= 1/\lambda \); den Lyapunov-Exponenten \(\lambda\) hat man aus der nichtlinearen Bewegungsgleichung auszurechnen. Der andere Faktor ist durch unsere begrenzte Messmöglichkeit bzw. unsere Genauigkeitsansprüche an die Vorhersage bestimmt; beides geht logarithmisch ein, \( \log(\epsilon_{tol}/\epsilon_{mess})\). Das bedeutet unter anderem, dass selbst eine Verdoppelung der Genauigkeit, was im Allgemeinen bereits gewaltige Anforderungen (und Kosten) an die Messapparatur oder die Zahl der Messstationen usw. stellt, nur relativ schwach wirksam wird, indem sich je nach ursprünglicher Genauigkeit eine um vielleicht 10 Prozent bis 20 Prozent längere Vorhersagezeit ergibt.

Quelle: https://www.weltderphysik.de/thema/chaos-und-ordnung/kausalitaet/